Von Doppelinterview war keine Rede. Doch der kleine Leander erweist sich als ein angenehmer Überraschungsgast. Sechs Wochen alt ist er gerademal, klebt erst an Mutters Schulter und döst alsbald friedlich auf ihrem Schoss ein.
Obwohl erst 31 Jahre alt, ist Baiba Skride eine Spitzengeigerin mit spannender Geschichte. 2001 trat sie dank ihres Sieges am berühmten Reine-Elisabeth-Wettbewerb ins Scheinwerferlicht der Musikwelt. Drei Jahre später bot ihr Sony einen Vertrag an. Weltweit wurden ihre CD verkauft wie rezensiert, und wohl dank auffälliger CD-Covers lachte das Geigen-Girlie Skride einen auch aus Frauenzeitschriften entgegen.
Doch das ist eine abgeschlossene Lebensphase. «Zum Glück» sagt Baiba Skride zwar nicht. Aber man merkt – und sieht – ihr an, dass sie heute ein völlig anderes Leben führt. Dass sie nun in der Medienaufmerksamkeit nicht mehr so weit oben stehe, sei ihr wurst. «Meinen Namen muss nicht jeder kennen. Ich bin glücklicher als jemals zuvor.»
Interessanterweise wurde Skride wegen des frühen Hypes um sie von manchen Veranstaltern nicht ernst genommen. Es galt also, Boden gutzumachen – mit Erfolg. Bietet die Lettin heute Konzerte von Carl Nielsen oder Benjamin Britten an, heisst es nicht mehr: «Bitte spielen Sie doch Tschaikowsky!» Sie fühlt sich viel mehr akzeptiert: «Ich werde als erwachsene Künstlerin wahrgenommen.» Bezeichnenderweise spielt sie am Lucerne Festival das 1. Violinkonzert, das «Offertorium», von Sofia Gubaidulina, Composer in Residence.
Zum neuen Leben gehört auch eine neue Geige – eine legendäre. Einst spielte Gidon Kremer darauf, ja, der lettische Meistergeiger führte damit Gubaidulinas Violinkonzert 1980 zum ersten Mal auf. Er machte die Tatarin, die unter dem kommunistischen System litt, im Westen berühmt. «Es ist fast unheimlich, dass ich in Luzern jenes Instrument spiele, für das dieses Werk komponiert wurde», sagt Skride.
Sofia Gubaidulina passt als Composer in Residence bestens nach Luzern, wo man 2012 den «Glauben» zum Festivalthema gemacht hat. Der Glaube ist Grundthema ihrer Musik. Ehrlich bekennt Baiba Skride jedoch, dass es nicht immer einfach sei, die Emotionen und die religiöse Tiefe des Werks sofort zu finden, ja dem Publikum zu vermitteln. «Zuerst ist da ein Emotionschaos, und erst am Schluss kommt man zu sich, versteht alles: Da spüre ich eine Erlösung. Ich opfere mich als Interpretin, ich bin nur vordergründig eine Geigerin, im Prinzip stehe ich nämlich hinter der Musik. Nur dann kommen diese Emotionen zum Vorschein.»
Skrides Abend ist einer von dreien, die der Luzerner «Artiste Etoile» Andris Nelsons dirigiert. Ohne Worte, schwärmt Skride, würde sie sich «mit Andris» musikalisch verstehen. Das liege daran, dass man dieselben lettischen Wurzeln habe. «Wir gingen auf dieselbe Schule, meine Schwester war mit ihm gar in derselben Klasse. Das gleiche Land, das gleiche Licht!» Nelsons habe eine unheimliche Fähigkeit, jeden im Orchester zu begeistern: «Andris arbeitet mit ehrlicher Begeisterung intensiv an jeder Kleinigkeit, so, dass alles noch schöner klingt. Man ist von ihm gebannt. Jeder möchte für ihn das Beste geben.»
Lettland hat eine Vielzahl von weltberühmten Musikern hervorgebracht. Neben Nelsons und Skride gehören Mariss Jansons, Peteris Vasks, Gidon Kremer, Elina Garanca, die Spitzenchöre, Iveta Apkalna, Kristine Opolais, Egil Silins, Marina Rebeka oder Mischa Maisky zur Weltspitze.
Warum dieses Land mit gerademal zwei Millionen Einwohnern so viele musikalische Genies sein Eigen nennt, kann Baiba Skride erklären. Wenn auch die Jüngeren nicht mehr die von Jansons gelobte sowjetische Musikausbildung erlebten, sei es doch wichtig, wie früh man nach wie vor mit Musik in Kontakt komme: einerseits im Musikunterricht, andererseits in den unzähligen Chören. Aber da sei noch mehr. «Weil wir ein so kleines Land sind, wollen wir raus, um die Welt zu sehen! Und es ist sowieso unmöglich, dass einer mit 25 noch zu Hause wohnt. Wir müssen früh etwas machen, etwas erreichen.»
Sie sagt es ernst, schaut dann auf den erwachenden Leander und fügt leise lächelnd an: «Wir Letten sind gesegnet.»
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Honegger, Martin, Strawinsky
Violinkonzerte
(Orfeo 2012).
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