Diesen Abend im Mai habe ich nie vergessen. Ich war sechzehn, Schüler im Internat des Seminars Hofwil, ich hatte, bis die Dämmerung einsetzte, auf der Sportanlage Hochsprung trainiert und ging nun in Turnhosen und Leibchen zurück zum Wohngebäude. Da hörte ich, ganz unerwartet, eine Musik, die mich augenblicklich festbannte. Sie kam aus einem halb offenen Fenster im Parterre, aus einem der Schlafräume. Ich erkannte als Solo-Instrument die Geige, auf der ich seit drei Jahren selber übte, dazu eine Flöte und ein Cembalo; im Hintergrund ein kleines Orchester. Aber was spielten sie denn? Die Melodien gingen hin und her, überlagerten sich, wurden aufgenommen, abgewandelt; ein lustvoll-lebendiger Dialog war es. Dazwischen rieselten und glitzerten die Töne des Cembalos, virtuos rauschten sie auf, und ihr Pulsieren nahm mich mit ins Unbekannte, das mir doch plötzlich vertraut schien. Es wurde dunkler ringsum, aber ich glaubte, in einem lichten Wald zu stehen. Sonnenreflexe tanzten durch windbewegtes junges Buchenlaub. Eine Musik voller Grüntöne war es, leuchtendes Grün, mit schattigen Stellen hier und dort.
Als das Stück, viel zu früh, zu Ende war, hörte ich von drinnen Stimmen, ein Lachen. Ich fragte durchs Fenster: «Was war das?» Einer aus der Parallelklasse lehnte sich zu mir heraus und sagte: «Bach. Ist doch klar.» Ich nickte, als ob ich Bescheid wüsste, merkte nun, dass ich fror, und ging benommen weiter zur Eingangstür. Der Mitschüler war ein begabter Klavierspieler, er hatte vom Internatsleiter die Erlaubnis bekommen, abends seinen kleinen Lenco-Plattenspieler während einer halben Stunde zu benutzen, aber nur in mittlerer Lautstärke und mit klassischer Musik.
Bach, Johann Sebastian: Den Namen kannte ich natürlich, ich wusste auch, dass Orgelstücke, die ich als widerspenstiger Konfirmand in der Kirche über mich ergehen liess, von ihm stammten. Aber ich hatte ihnen, mit anderem beschäftigt, nie richtig zugehört. Das Erlebnis draussen vor dem Fenster war völlig anders gewesen, es hatte mir die Tür zu einer neuen Welt aufgestossen, zu etwas makellos Schönem, in dessen musikalischem Fluss jeder Ton, jedes Motiv seinen Platz hatte und zum inneren Gleichgewicht beitrug, das mir selber schmerzhaft fehlte. Ich fand bald heraus, was mich derart bezaubert hatte: Es war der dritte Satz aus dem fünften Brandenburgischen Konzert, weltliche Musik, geschrieben für einen Markgrafen – und zugleich für mich, zweihundertvierzig Jahre später.
In den nächsten Sommerferien arbeitete ich als Gemüseverkäufer bei Coop. Von meinem ersten selbst verdienten Geld kaufte ich mir einen Lenco-Plattenspieler und zwei Langspielplatten mit den Brandenburgischen Konzerten. Damit war die Liebe zu Bach besiegelt, und ich blieb ihm ein Leben lang treu. Ich war Platzanweiser im Berner Münster, als die h-Moll-Messe aufgeführt würde, ich hörte stehend, an eine Säule gelehnt, dem «Dona nobis pacem» zu, mit dem sie endet, und versuchte, meine Tränen zu verstecken. Da war sie wieder, die überwältigende Erfahrung, dass diese Töne mehr bedeuteten als nur Klangschönheit, dass hinter ihnen, durch sie hindurch etwas hörbar wurde, was meine Existenz überstieg. Ich war damals oft unglücklich, innerlich zerrissen, doch für die Dauer dieses Chorstücks fühlte ich mich aufgehoben und getragen. Die Stimmen baten um Frieden, und er war da, in mir. Hier, im Münster, empfand ich einen Trost, der nichts mit billigen Glaubenssprüchen zu tun hatte; er brachte mich in Einklang mit mir selbst und bedeutete mir in Tönen, ich sei nicht allein.
Auf den wenigen Porträts, die es von Bach gibt, wirken seine Gesichtszüge bäurisch, beinahe derb. Mein Staunen über diesen Mann hat im Lauf der Zeit ständig zugenommen. Seine engere Heimat, Mitteldeutschland, hat er nie verlassen, und doch widerspiegelt sein Werk einen Kosmos, der keine Grenzen kennt. In ihm gibt es auch die Dissonanz, die Trauer, den Schmerz, das macht den Zusammenklang umso reicher. Manchmal stelle ich ihn mir vor, wie er mitten im Kinderlärm komponiert, ich stelle mir vor, wie er seine Thomasschüler ausschimpft, sich mit Vorgesetzten streitet und dann beim Dienstherrn untertänig um mehr Gehalt ersucht. Aber nichts hält ihn davon ab, sich hinzusetzen und, mitten im Alltagstrubel, für die Kantate am nächsten Sonntag einen kunstvollen Choral zu komponieren, der doch so selbstverständlich klingt.
Ich begreife nicht, wie ein einzelner ein solches Werk erschaffen konnte. Er bleibt für mich ein Rätsel. Aber genau dies ist ja immer wieder die Botschaft von Bachs Musik: Sie lädt alle ein, auch die Zweifler, die Skeptiker, die Glaubenslosen, sich dem Unbegreiflichen zu nähern, offen zu werden für eine Harmonie, die sich mit unserer Vernunft nicht erfassen lässt.
Lukas Hartmann
Der 70-jährige Schriftsteller lebt bei Bern. Er schreibt Jugendbücher und Romane.
Zuletzt sind der historische Roman «Abschied von Sansibar» und das Jugendbuch «Mein Dschinn» von ihm erschienen.