Auf dem wohl lebendigsten Marktplatz Marokkos siedelt der Autor Mahi Binebine seine Handlung an – auf dem Djemaa el Fna in Marrakesch. Dort, wo sich Strassenhändler, Märchenerzähler, Bettler, Einheimische und Fremde versammeln, wird Mimûns erster Arbeitsort, und dies schon als Baby. So will es die Vorsehung, beziehungsweise seine Mutter.
Mimûn, auch Krümelchen genannt, erzählt seine aussergewöhnliche Geschichte selbst: «Das Metier eines Babys fachgerecht auszuüben, ist nicht jedermann gegeben», beginnt er seine Erzählung. Und fährt aus Säuglingsperspektive fort: «So wie manche mit einer erstaunlichen Begabung für Musik, Tanz oder Fussball geboren werden, war ich als Genie in der Kunst des Bettelns auf die Welt gekommen.»
Der Kleinste als Retter vor dem Ruin
RuinZum Glück, denn Mimûns Mutter hat sechs hungrige Mäuler zu stopfen. Kurz vor der Geburt von Krümelchen tritt sein Vater in der Sahara auf eine Mine und stirbt. In der Not verdingt die alleinerziehende Frau ihre beiden Töchter als Haushalthilfen. Die Jungs hingegen treiben sich in den Gassen herum und sorgen mehr oder weniger für sich selber. Der Letztgeborene aber gehört «zum Stamm der Auserwählten; ihm wird die schwere Aufgabe zuteil, den Haushalt vor dem Ruin zu retten» – als zufriedener kleiner Säugling.
«Man brauchte mich nur einer armen Frau, die im Schneidersitz unter einer Mauer hockte, in die Arme zu legen, und schon quoll ihr Becher von Münzen», berichtet der Ich-Erzähler. Und dieser Fähigkeit wegen entwickelt sich das Baby zur Handelsware. Gegen Tagesmiete wird er von der Mutter an Bettlerinnen abgegeben. Um das Wachstum zu stoppen, gibt es nur wenig zu essen, der Körper wird einbandagiert.
Mimûns Bruder Ali macht den Kleinen schliesslich mit Monsieur Salvador bekannt. Dieser ist Professor, mag hübsche Buben und gute Bildung. Er bringt Mimûn lesen und schreiben bei. Doch die Ausflüge in diese andere Welt Marrakeschs sind zeitlich begrenzt. Krümelchens Arbeitsort bleibt die Strasse, das Betteln inmitten von Schmutz, umgeben von räudigen Katzen und heruntergekommenen Menschen. Bis eine Frau in sein Leben tritt.
Der Armut mit Humor begegnen
Was klingt wie ein Märchen, endet ohne Happy End. Und Mimûn besinnt sich der griechischen Tragödien: «Wie die Chancen für einen Helden auch standen, das unabwendbare Schicksal arbeitete daran, ihm seine Träume zu stehlen und ihn dann wie ein Insekt zu zerdrücken.»
Der marokkanische Autor Mahi Binebine, 1958 in Marrakesch geboren, wird nicht müde, die Zustände in seinem Land schonungslos offenzulegen. Armut und Chancenlosigkeit beherrschen den Alltag vieler Menschen. Dieser Unerträglichkeit des Seins begegnet Binebine mit viel Humor und Verschmitztheit.
Herausragend war sein Roman «Die Engel von Sidi Moumen», wo der Autor die Geschichte von Jugendlichen erzählt, die in den Bidonvilles um Casablanca aufwachsen. Um dem Elend zu entkommen, verdingen sie sich als Selbstmordattentäter. Binebine nahm für diesem Roman einen Anschlag von 2003 zum Anlass, den Jugendliche in einem Hotel in Casablanca verübten.
Buch
Mahi Binebine
«Der Himmel gibt, der Himmel nimmt»
216 Seiten
(Lenos 2016).