Auf das Pult legt Arlette Yildiz ihren Laptop nur, wenn sie nicht schreibt. Dabei hat sie eigentlich extra eine Schreibecke in ihrem Wohnzimmer eingerichtet: Eine Schildkrötenfigur und eine Büchse mit Stiften stehen auf dem Tischchen, ein Drucker daneben. Die 55-Jährige sitzt aber lieber auf ihrem Sofa oder draussen im Garten, wenn sie ihre Autobiografie tippt.
Mit angeleitetem Schreibprozess
Arlette Yildiz aus Neuhausen am Rheinfall nimmt an der aktuellen Schreibrunde der Edition Unik teil. Das Projekt bietet Menschen eine Plattform, die ein eigenes Buch schreiben möchten. Kulturunternehmer Martin Heller rief es 2014 ins Leben. Seit der Pilotrunde 2015 haben 306 Personen mitgemacht, 296 davon haben das Buch fertiggestellt. Fiktionalisierte Episoden aus dem Leben sind dabei oder Spurensuchen in der eigenen Familie.
Die Edition Unik ist eine Art angeleiteter Schreibprozess. Das Programm ist auf 17 Wochen beschränkt, die Abläufe genau definiert: Die Schreibenden werden über drei Etappen ans Ziel geführt. Gearbeitet wird mit einer Schreibsoftware; für Unterstützung und Austausch finden eine Reihe von Veranstaltungen statt. Am Schluss hält jeder und jede zwei gedruckte Exemplare des eigenen Buches in der Hand.
Das Bündel A4-Blätter, das Arlette Yildiz auf den Küchentisch legt, ist etwas mehr als ein Zentimeter dick – alles, was sie seit Beginn der Schreibrunde im August zu Papier gebracht hat. Yildiz lebt in einer Dachwohnung, die Herbstsonne wirft einen breiten Streifen kräftiges Gelb auf die Ausdrucke. Was auf ihnen steht: Erinnerungen an die Kindheit, Anekdoten aus ihrem Leben. Etwa jene, aus ihrer Zeit in den USA. Einmal fuhren Yildiz und ihr damaliger Partner mit alten Autos durch Colorado, die Fenster runtergekurbelt. Schreibend erinnert sie sich an dieses intensive Gefühl von Freiheit.
Wenn sie von ihrem Leben erzählt, klingen zwei Regionen in ihrer Sprache. Als sie acht war, zogen ihre Eltern aus dem St. Galler Rheintal in den Kanton Schaffhausen. Yildiz absolviert das Wirtschaftsgymnasium, arbeitet, lebt fünf Jahre in den Vereinigten Staaten, kehrt in die Schweiz zurück. Mitte 30 bekommt sie psychische Probleme – Yildiz ist familiär vorbelastet. Heute wartet sie auf den Rentenentscheid der Invalidenversicherung. Bei der Edition Unik meldete sie sich an, weil sie unbedingt schreiben wollte. «Seit ich lesen kann, sind Bücher meine Welt», sagt sie. Berichtet sie von Romanen und Schreibstilen, dann hört man diese Begeisterung in ihrer Stimme. An der Edition Unik schätze sie die straffe Struktur, so Yildiz. «Es nimmt einem den Druck, wenn man zunächst nur Notizen aufschreibt. Das Projekt muss sich entfalten – auch in einem drin.» Und doch hat sie auch zu ihrer eigenen Arbeitsweise, zu eigenen Ritualen gefunden. Schreibt sie mit dem Laptop auf dem Sofa, laufen Naturfilme am Fernsehen. «Wenn ich das Gefühl habe, da lebt etwas, kommt auch bei mir der Schreibfluss», sagt sie.
Die Edition Unik ist nicht die einzige Möglichkeit für Menschen, die über ihr Leben berichten möchten. Volkshochschulen, Vereine und Schreibcoaches bieten heute Kurse für autobiografisches Schreiben an – vor allem Menschen über 60 nutzen sie. Das Angebot entspreche durchaus einem Bedürfnis, sagt Alfred Messerli vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich (ISEK). Er hat sich auf Erzählforschung und Selbstzeugnisse spezialisiert. «In einer Zeit des schnellen medialen und gesellschaftlichen Wandels bietet einem die Autobiografie Selbstversicherung», sagt er. Gleichzeitig interessiere sich aber auch die nachkommende Generation dafür, was Eltern und Grosseltern zu erzählen hätten.
Meet-my-Life: Texte frei zugänglich
Seit 2015 betreibt Messerli zusammen mit dem Ex-Fust-Chef Erich Bohli das nichtkommerzielle Projekt Meet-my-Life. Auf der Online-Plattform können Menschen ihre Erinnerung aufschreiben – nach einer eigenen Struktur, oder anhand eines Fragenkataloges. Über 200 Schrei-bende sind derzeit registriert,
44 Biografien wurden bisher fertig geschrieben. Es sind Texte über die Kindheit auf einem Bauernhof, Wurzeln in der Ferne oder das Dasein als Hausfrau. In diesem Jahr wurde erstmals ein Autobiografie Award an der Universität Zürich vergeben. Er ging an den 81-jährigen Arzt Peter Marko, der als Kind den Nazi-Schergen entkam.
Ein Teil der Texte auf Meet-my-Life ist frei zugänglich. «Diese Biografien sollen von möglichst vielen Menschen gelesen werden», sagt Alfred Messerli dazu, «sie sind ein Reichtum, von dem alle profitieren können.» Bei Meet-my-Life und der Edition Unik geht es denn auch um mehr als um die persönlichen Geschichten der Schreibenden. Die Texte auf Meet-my-Life stehen als Dokumente der Alltagsgeschichte der Forschung zur Verfügung. Das Projekt Edition Unik versteht die Lebensgeschichten seiner Teilnehmer ebenfalls als Teil des kulturellen Erbes.
Die letzte Phase vor der Veröffentlichung
Arlette Yildiz ist mittlerweile dabei, ihr Material zu sortieren. Dies sei der schwierigste und zugleich spannendste Teil des Projekts, sagt sie. Eine Art episodische Biografie soll entstehen. «Ich möchte Humor drin haben – schliesslich ist das Leben manchmal auch einfach grotesk.» Geschrieben habe sie primär für sich. Und doch: Vielleicht könne ihr Buch ja anderen Menschen Mut machen und Akzeptanz schaffen für psychische Erkrankungen. Noch weiss sie aber nicht, ob sie an der Buchvernissage der Edition Unik vorlesen wird. Aber bis dahin hat sie ja noch etwas Zeit.
Buchvernissage Edition Unik Kosmos Zürich
entgegen einem früheren Hinweis ist die Buchvernissage nicht öffentlich
Angebote für autobiografisches Schreiben
Edition Unik
Kosten: 550 Franken für die Teilnahme am 17-wöchigen Programm, inkl. Schreibsoftware, Veranstaltungen zum Austausch unter den Schreibenden und zwei gedruckter Exemplare des eigenen Buchs www.edition-unik.ch
Meet-my-Life
Kosten: 40 Franken für die Registrierung auf der Online-Plattform www.meet-my-life.net