Eigentlich träumt der Vater vom Schreiben, doch er muss als Heizer die Familie durchbringen. Die Mutter ist abweisend, und manchmal verprügelt sie die Tochter. «Ich bin seltsam, weil ich wie mein Vater Bücher lese und weil ich nicht verstehe, wie man spielt», schreibt Tove Ditlevsen. Diese Kinderjahre, welche die dänische Autorin in kurzen, schnörkellosen Sätzen schildert, sind angelehnt an die eigenen. «Wohin man sich auch wendet, ständig stösst man dabei gegen seine Kindheit und tut sich weh, weil sie kantig und hart ist und erst aufhört, wenn sie einen vollkommen zerrissen hat.» «Kindheit» ist der erste Teil ihrer autobiografisch geprägten «Kopenhagen-Trilogie», zu der noch «Jugend» und «Abhängigkeit» gehören. Das Buch ist wie ein Sog, eine Art kühle Soziologie vom Leben der Arbeiterklasse im Kopenhagen der 1920er und vom Hadern mit der eigenen Identität.
Anschreiben gegen die Armut und ihre Psychose
Die drei Bände wurden nun erstmals in deutschsprachiger Übersetzung veröffentlicht. Entstanden sind die ersten zwei Bände 1967 während einer Ehekrise, als Ditlevsens Psychiater sie in eine Klinik schickte, wohin sie ihre Schreibmaschine mitnahm. In Dänemark war sie schon zu Lebzeiten mit ihren Romanen, Essays und Gedichten eine literarische Legende. Nachdem sie sich mit 58 Jahren 1976 das Leben genommen hatte, kamen Tausende Menschen zu ihrer Beisetzung. In ihrer autofiktionalen Prosa verarbeitete sie ihr Aufwachsen in Armut, ihre Alkohol- und Medikamentensucht, ihre Psychosen und vier Ehen. Wie ihre Protagonistin wuchs Ditlevsen selbst im Kopenhagener Arbeiterviertel Vesterbro auf.
Erzählt wird «Kindheit» aus der Sicht eines kleinen Mädchens. Erfordert diese Perspektive eine besondere Herangehensweise bei der Übersetzung? «Ihre Texte erklären einem im Grunde selbst, wie sie übersetzt werden möchten, man muss ihnen nur sehr genau zuhören», sagt die Übersetzerin Ursel Allenstein gegenüber dem kulturtipp. «Im Falle eines Arbeiterkindes heisst das natürlich vor allem, auch im Deutschen eine klare Sprache und Satzstruktur zu wählen, nicht zu kompliziert, gehoben oder blumig zu formulieren, die Zurückhaltung zu bewahren.»
Die Zukunft bleibt ein monströser Koloss
Die Heranwachsende will aus dem Sarg der Kindheit flüchten. Als Dichterin will sie die soziale Schicht der Eltern überwinden. Dem liebevollen Vater, der mit 43 Jahren inmitten der Weltwirtschaftskrise seinen Job verliert, steht die launige Mutter gegenüber. «Alles, was ich tue, dient dazu, ihr zu gefallen, sie zum Lächeln zu bringen, ihren Zorn abzuwenden», schildert die Ich-Erzählerin. Die Sehnsucht der Tochter, sich poetisch zu entfalten, können die Eltern nicht verstehen. Frauen sollen heiraten und Kinder bekommen. «Die Zukunft ist ein monströser, übermächtiger Koloss, der bald auf mich herabstürzen und mich zertrümmern wird», fürchtet sich das Kind und leitet langsam zum zweiten Band «Jugend» über – dem nächsten Drama des begabten Mädchens.
Tove Ditlevsen
Kindheit
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
118 Seiten
(Aufbau 2021)