Nur die Wahrheit finden, die Gewissheit haben, dass der eigene Vater tot ist, erfahren wie und wo er gestorben ist: Dies waren die Beweggründe des Schriftstellers Hisham Matar, sich im März 2012 in seine Heimat aufzumachen und nach ihm zu suchen, denn: «Nie nach Libyen zurückzukehren, bedeutete, mir nie mehr zu erlauben, darüber nachzudenken.»
1970 als Sohn libyscher Eltern in New York City geboren, lebte Hisham Matar von 1973 bis 1979 in Tripolis. Er war acht Jahre alt, als die Familie flüchten musste; der Vater fürchtete als Oppositioneller um das Leben aller. Nairobi, dann Kairo – Jahre später sollten London, Paris und Manhattan zu Lebensstationen von Hisham Matar werden.
1990 aber widerfährt der Familie Matar an ihrem Aufenthaltsort in Kairo Grausames. Hishams Vater Jaballa Matar wird mitten auf der Strasse vom libyschen Geheimdienst entführt und in das berüchtigte Gefängnis Abu Salim in Tripolis gesteckt. Davon erfährt Matars Familie allerdings erst Jahre später, als sie drei aus dem Gefängnis geschmuggelte Briefe erhält. Darin berichtet der Entführte vom Vorgefallenen.
Erste und letzte Lebenszeichen
Die Schilderungen Jaballa Matars über die Zustände im Ker-ker lassen Schreckliches ahnen. «Die Grausamkeit dieses Ortes übertrifft bei weitem alles, was wir über die Gefängnisfestung der Bastille gelesen haben…», schreibt er. Und: «Manchmal verstreicht ein Jahr, ohne dass ich die Sonne sehe oder aus dieser Zelle gelassen werde.» Trotz dieses menschenunwürdigen Daseins zeigt er sich kämpferisch: «Alles ist von Grausamkeit durchsetzt, doch ich bin und bleibe stärker als ihre Unterdrückungstaktiken… Mein Kopf weiss nicht, wie man sich beugt.»
Es sind die ersten und letzten Briefe, welche Hisham Matar und seine Familie von ihrem Vater erhalten. Die Ungewissheit über seinen Verbleib belastet alle schwer. Hisham versucht in späteren Jahren, sich mit Büchern den Schmerz von der Seele zu schreiben. Seine beiden Romane «Im Land der Männer» (2008) und «Geschichte eines Verschwindens» (2013) zeugen eindrücklich davon.
Wiedersehen mit Orten der Kindheit
Als im Jahr 2011 die Revolutionäre Abu Salim und weitere Gefängnisse in Libyen unter ihre Kontrolle bringen, ist die Hoffnung von Hisham Matar gross, seinen Vater unter den überlebenden Gefangenen zu finden.
Doch es gibt keine Lebenszeichen mehr. Und die quälenden Fragen bleiben: Starb er Mitte der 90er-Jahre, als die Briefe auftauchten? Oder fand er im Massaker 1996 den Tod, als 1270 Gefangene zusammengetrieben und erschossen wurden?
Im März 2012 herrscht in Libyen Aufbruch. Diktator Muammar al-Gaddafi ist tot. 33 Jahre, nachdem Hisham Matar das Land verlassen hat, reist der Autor mit seiner Mutter und seiner US-amerikanischen Ehefrau Diana zurück in die Heimat. Dort trifft er seine Verwandten, einige von ihnen sind nach langen Jahren der Haft freigekommen. Matar besucht die Orte seiner Kindheit, seine Cousins und Cousinen. Er trifft Menschen, die ihm über Abu Salim und das Leben in Libyen in den vergangenen drei Jahrzehnten erzählen. Er dokumentiert all seine Begegnungen und Eindrücke, reiht sämtliche Fakten auf, gleicht sie ab und blendet zurück zu wichtigen Ereignissen in seinen früheren Jahren.
Erschreckend etwa ist die Erzählung über das Zusammentreffen mit Gaddafis zweitältestem Sohn Saif in London. Dieser versprach ihm, Informationen über den Verbleib seines Vaters zu liefern, und betrieb mit Matar monatelang ein grausames Katz-und-MausSpiel, das schliesslich im Nichts endete.
Eine exakte Analyse des Landes
Hisham Matars Buch «Die Rückkehr» gibt einen tiefen Einblick in das eigene Leben des Schriftstellers. Nüchtern und leise erzählt er von seiner Kindheit, vom Bruder, der Mutter und den Jahren im Exil. Er rollt aber auch die Geschichte seines Heimatlandes auf und macht mit seinen sorgfältig notierten Beobachtungen deutlich, wie desaströs die politische Lage in Libyen war und noch immer ist. Dies macht das Buch so wertvoll, obwohl der Autor sich in zahlreichen Interviews entschieden von einer politischen Parteinahme distanziert: «Es geht und ging mir nie um die Beurteilung der politischen Lage Libyens, ich wollte einzig und allein Klarheit, was mit meinem Vater geschehen ist.»
Nur die Wahrheit bleibt auf der Strecke
Weder Klarheit noch Wahrheit hat Hisham Matar gefunden: Dies wird ihm bewusst, als er in Tripolis vor einer Wand voller Fotos von Exekutierten steht. Sein Vater ist weder auf einem Bild noch auf der Liste der Getöteten. Da spürt er, wie sich sein Herz zusammenzieht. «Schmerz lässt das Herz schrumpfen. Das ist wohl Teil der Absicht», resümiert er. «Du lässt einen Mann verschwinden, um ihn zum Verstummen zu bringen, aber auch, um das Denken der Hinterbliebenen zu verengen, ihre Seele zu verderben und ihre Phantasie einzuschränken.»
Buch
Hisham Matar
«Die Rückkehr – Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater»
288 Seiten
(Luchterhand 2017).