Es sind Schüler, 16 Jahre alt, und vieles gefällt ihnen nicht an ihrem Land. In Sofia malen sie Graffitis an die Wand eines Amtshauses. «John, you are in our hearts!» Daneben ein Herz und: «All you need is love», «Help!» und «Imagine».
Eine harmlose Hommage an John Lennon, die aber den bulgarischen Geheimdienst auf den Plan ruft. Der stellt fest: Schüler des Englischen Gymnasiums hätten nicht nur öffentlichem Eigentum Schaden zugefügt, sondern «durch Verwendung westlicher Parolen versucht, das geistige Fundament der sozialistischen Gesellschaft zu untergraben».
Leichtfüssig, humorvoll, listig
Noch sieben Jahre wird es dauern, bis das untergrabene Fundament absackt, doch da hat Samuel Finzi sich schon aus dem Staub gemacht. Ist nach Paris gezogen, dann nach Berlin, wo er seither das Theaterpublikum beeindruckt und in vielen Filmen mitwirkt. Scheinbar mühelos schlüpft er in seine Figuren. Etwa jene des Dieners Carlos, der nie um eine Lösung für Probleme aller Art verlegen ist, in den Verfilmungen von Martin Suters Allmen-Romanen.
Leichtfüssig, humorvoll, listig: So begegnet der mittlerweile 57-Jährige den Lesern auch in «Samuels Buch», dem «autobiografischen Roman» seiner Kindheit und Jugend in Bulgarien, dem «Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten». Doch wir lernen nicht nur ihn selber kennen. Erleben, wie seine erste grosse Leidenschaft entbrennt, die Liebe zum Kino. Und wie er schon bald ein Auge wirft auf die Mädchen, angefangen ausgerechnet bei Emilia, der Enkelin des Langzeit-Diktators Todor Schiwkow.
Da ist vor allem auch eine bunte jüdische Sippe, der er entstammt, die in alle Welt verstreut lebt, aber trotzdem Sommer für Sommer zusammenkommt. Und da sind die vielen Künstler, die er kennenlernt, wenn er den Grossvater zur Orchesterprobe begleitet, dem Vater bei seinen Bühnenauftritten zuschaut oder stolz Zeuge der Klavierabende seiner Mutter wird. Und obwohl die Eltern ihn gar nicht in ihre Richtung lenken wollen, geben sie ihm doch jene Regeln mit, die ihn auf seinem Weg begleiten. «Es zählt nur das, was du dir selbst erarbeitest», sagt der Vater. Und: «Es ist nicht gesund, sich am eigenen Erfolg zu berauschen.»
«Irgendwohin, wo es nicht so grau und hässlich ist»
In locker gefügten Szenen und mit leichter Hand erzählt Finzi von den Abenteuern der Pubertät und von den Absurditäten der bulgarischen Diktatur. Wie sie auf der nach ihm benannten Bergspitze das sinnlose Heldentum des Revolutionärs und Dichters Christo Botew feiern sollen und Schiwkow einfliegt, seltsam winkend und wie ein Dromedar laufend.
Wie ihn, im Dunkeln am Meeresstrand, in der Sommerbrigade Margarita an der Hand nimmt. Und wie sie, auf Exkursion in Griechenland, ein Pornokino entdecken. Und wie ihm schliesslich, auf einer Reise mit den Eltern nach Italien und Frankreich, überdeutlich klar wird: Er muss hier raus, sobald es geht. Irgendwo leben, «wo es nicht so grau, hässlich und monoton war». Bulgarien, ein Land, das seit Jahrhunderten geradezu stolz ist auf sein Sklaventum, ist kein Boden, auf dem Samuel Finzis Talent gedeihen kann.
Buch
Samuel Finzi - Samuels Buch
219 Seiten (Ullstein 2023)