In der Einleitung zu seinem Buch erklärt Vance, er habe es nicht geschrieben, weil er etwas Ausserordentliches erreicht habe. «Ich habe es geschrieben, weil ich etwas ziemlich Gewöhnliches erreicht habe – was den meisten Kindern, die so aufgewachsen sind wie ich, eigentlich nie passiert. Ich bin nämlich in Armut aufgewachsen, im Rust Belt, in einer Stadt, die einmal ein Stahlstandort war und von Stellenstreichungen und zunehmender Hoffnungslosigkeit geprägt ist, seit ich denken kann.»
Die Stadt: Middletown im US-Bundesstaat Ohio; hier kam Vance 1984 zur Welt. Eine andere Stadt ist Jackson in Kentucky, seine «Herzensheimat» und frühere Heimat seiner Grosseltern, die er «Papaw» und «Mamaw» nennt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie gegen Norden gezogen: «Mamaw hatte geglaubt, sie sei der Armut der Appalachen entkommen, aber die Armut – die emotionale, nicht die finanzielle – war ihr gefolgt.»
Familienehre, Religion und Patriotismus
Rednecks, Hillbillys (Hinterwäldler) oder White Trash – so nennen die Amerikaner die Vorfahren von Vance aus den Südstaaten. Bei den Hillbillys taucht man ein in eine Welt, die geprägt ist von Familienehre, Religion, Patriotismus. Gekennzeichnet ist die Hillbilly-Welt, die sich in Ohio erhalten hat, im Fall von Vance durch Gewalt, Missbrauch, Scheidungen, Drogen, Alkoholismus, Kriminalität, Arbeitslosigkeit. Vance schreibt: «Die Leute sollen den amerikanischen Traum so kennenlernen, wie meine Familie und ich ihn kennengelernt haben.»
J.D. Vance wächst als Kind einer alleinerziehenden drogenabhängigen Mutter auf. Dank der Fürsorge der resoluten Mamaw schafft es Vance auf den richtigen Weg. Sie ist die schiesswütige Oma mit 19 Gewehren im Schrank, die dem kleinen J.D. rät, auf dem Pausenplatz falls nötig zuzuschlagen. Mamaw ist aber auch die lebensweise, liebevolle Frau, die ihren Enkel beschützt und ihm vieles beibringt.
Nach der Highschool entscheidet sich Vance für die US-Marines inklusive Irak-Einsatz. Nach vier Jahren kehrt er zurück, besucht die Uni und wird nach dem Jus-Bachelor an der Elite-Uni Yale aufgenommen. Eine Welt, in der er stets daran erinnert wird, dass sie nicht die seine ist.
Empathie für seine Leute
Das Buch ist eine Elegie. Dieses Klagelied ist aber auch Eloge: Vance hat sich die Empathie für seine Leute bewahrt. Für seine Nächsten sowieso: Papaw und Mamaw ist «Hillbilly-Elegie» gewidmet. Rezepte, wie man die Probleme lösen könnte, hat Vance keine parat in seinem leicht lesbaren und äusserst lesenswerten Buch. Er stellt vielmehr die richtigen Fragen, macht aufmerksam auf politische Defizite.
J.D. Vance ist Republikaner, ohne aber Trump gewählt zu haben. Die letzten zwei Jahre lebte er im kalifornischen Silicon-Valley. Seit wenigen Monaten ist er zurück im heimatlichen Ohio. Hier gründete er eine Non-Profit-Organisation, welche die Drogensucht bekämpfen soll und Starthilfe für Neuunternehmen leistet. Er hat seine Leute nicht vergessen.
Buch
J.D. Vance
«Hillbilly-Elegie.
Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise»
304 S. (Ullstein 2017).