Auf Fotos sieht Hans Christoffel (1865–1962) aus, wie man sich einen Offizier aus dem frühen 20. Jahrhundert vorstellt: kantiges Gesicht, buschiger Schnauz, strenger Blick. Schon in jungen Jahren wird der Bauernsohn aus dem bündnerischen Domleschg Soldat in der Königlich Niederländisch-Indischen Armee. Als er 1910 nach total 24 Dienstjahren austritt, ist er deren höchst dotierter Offizier.
Eng verknüpft mit der Weltgeschichte
Von Männern wie Christoffel erzählte man sich einst oft: Geschichten von Söldnern, die von Armut oder Abenteuerlust getrieben aus der Schweiz in die weite Welt zogen. Eine andere Geschichte erzählt jetzt die Ausstellung «Kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum Zürich. In Indonesien war der Offizier zwischen 1904 und 1910 nämlich an mehreren Massakern beteiligt.
Die Geschichte von Hans Christoffel ist die eines Kriegsverbrechers – und auch die einer kolonialverstrickten Schweiz. Die Schweiz und der Kolonialismus – das war lange ein blinder Fleck. Noch 2003 wies der damalige Bundesrat einen parlamentarischen Vorstoss zur Aufarbeitung zurück – die Schweiz sei schliesslich nie Kolonialmacht gewesen.
Umso bedeutender ist es, dass eine altehrwürdige Institution wie das Landesmuseum Zürich diesem Kapitel Schweizer Geschichte jetzt eine erste grosse Übersichtsausstellung widmet.
Den St. Galler Historiker und Aktivisten Hans Fässler freut das: «Das Thema ist geografisch in der Mitte der Schweiz und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.» Seit 25 Jahren erforscht Fässler die Rolle der Schweiz während der Kolonialzeit. Sein Buch «Reise in Schwarz-Weiss» gehört zu den ersten Publikationen, die das Thema 2005 in eine breite Öffentlichkeit trugen.
Fässler ging es in seinem Engagement immer auch um eine Korrektur des Schweizer Selbstbilds: «Viele sehen sich noch immer gerne als Bergler und Hirten, die sich von den Verwicklungen der Welt fernhalten. Aber die Schweiz ist eng mit der Weltgeschichte verknüpft.»
Schweizer Bürger zogen um die Welt
Und wie: Bereits ab dem frühen 16. Jahrhundert waren Schweizer mit den kolonialen Systemen von Grossbritannien, Spanien, Portugal oder den Niederlanden verbandelt. Kaufleute und Unternehmen besassen Plantagen, handelten mit Sklaven und Kolonialwaren.
Schweizer Bürger zogen als Missionare um die Welt, standen als Matrosen, Soldaten und Fachleute im Dienst der Kolonialmächte. Die Städte Zürich, Bern und Solothurn investierten allesamt in die Londoner South Sea Company, die an Sklavenhandel und Plantagen beteiligt war.
Und Anbieter von Indienne-Stoffen aus Basel und Neuenburg lieferten die Ware für den Sklaventauschhandel in Afrika. Historiker gehen davon aus, dass Schweizer direkt und indirekt an der Deportation von über 170'000 Sklaven beteiligt waren. Spätestens mit der Bewegung «Black Lives Matter» von 2020 ist das Thema Teil einer öffentlichen Diskussion geworden.
Heute finden Interessierte in Zürich, Basel und Bern, Freiburg, Neuenburg und Winterthur Rundgänge zur kolonialen Vergangenheit dieser Städte – oft von Vereinen wie Cooperaxion initiiert. Nebst dem Landesmuseum greifen aktuell weitere Häuser das Thema auf.
Das Hans Erni Museum in Luzern etwa zeigt die Schifffahrtssammlung von Philipp Keller. Es beleuchtet dabei aber auch die Tätigkeiten der Kaufmannsfamilie Keller im Kakaohandel mit Brasilien und im dortigen Plantagenwesen. Das Musée d’ethnographie de Genève und das Museum Rietberg in Zürich wiederum widmen sich im Rahmen der Benin Initiative Schweiz der Provenienz ihrer Sammlungen aus dem Königtum Benin in Nigeria.
Tausende sogenannter Benin-Bronzen gelangten nach dem Raubzug der britischen Kolonialtruppen von 1897 in den weltweiten Kunsthandel und in öffentliche Sammlungen.
Ergebnisse der neueren Forschung zeigen
Der Zeitpunkt für eine Übersichtsschau wie «Kolonial» ist somit der richtige, davon ist auch Marina Amstad überzeugt. Die Historikerin hat die Ausstellung im Landesmuseum zusammen mit drei Kolleginnen kuratiert und sagt: «Die Forschung hat in den letzten Jahren viel geleistet.
Wir möchten diese Ergebnisse vermitteln und zeigen, weshalb es wichtig ist, sich mit dem Thema zu beschäftigen.» Das Team hat die Schau als Parcours mit zwölf Stationen aufgebaut.
Das Publikum taucht ein in Themen wie Versklavung und Handel, Gewalt und Siedlungskolonien, kolonialer Blick und Rassismus. Jedes Kapitel hat ein Leitobjekt als Aufhänger – eine Kakaobohne, eine Missionsspardose, Hans Christoffels Ehrensäbel.
Und jedes Kapitel gibt Einblicke in Biografien von kolonisierten Menschen und von Schweizern, die Teil des Systems waren. Doch die grosse Leistung der Ausstellung besteht darin, dass sie stets eine Brücke in die Gegenwart schlägt.
Auf der Spur der Auswirkungen bis heute
Wie wirken die Gräueltaten von Hans Christoffel in Indonesien nach? Was hat Kolonialismus mit Klimawandel zu tun? Wie steht es heute um den Abbau und den Handel von Rohstoffen? Und wie spiegeln sich koloniale Menschenbilder heute im Alltagsrassismus? Was hat das alles mit uns zu tun?, lautet denn auch die zentrale Frage, die sich Besuchern von «Kolonial» am Schluss des Rundgangs stellt.
Das ist unbequem – aber wichtig. Die Ausstellung regt dazu an, Weltsichten, Heimatbilder und Denkweisen zu hinterfragen. Museen, Städte und Firmen haben angefangen, ihren Anteil am Kolonialismus aufzuarbeiten. Jetzt ist das koloniale Denken in unseren Köpfen an der Reihe.
Kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz
Bis So, 19.1.2025, Landesmuseum Zürich
Im Dialog mit Benin – Kunst, Kolonialismus und Restitution
Bis So, 16.2.2025, Museum Rietberg Zürich
Kakao, Kunst und Kolonialismus – Die Schifffahrtssammlung
PhilippKeller
Bis So, 7.6.2026, Hans Erni Museum,
Verkehrshaus der Schweiz, Luzern
Erinnern! Genf in der kolonialen Welt
Bis So, 5.1.2025
Musée d’ethnographie de Genève