Der Interregio, der an diesem Freitagnachmittag in Thalwil hält, spuckt zwar einige Menschen aus, aber offenbar keine Kunstfreunde. Vielleicht ist das nahende Wochenende schuld, es lockt das Zuhause oder der Ausflug in die Berge. Auf jeden Fall hat keiner der Reisenden Augen für die kleine Kunstausstellung in der Glaskabine auf dem Perron. Wenn sie nur wüssten, was sie verpassen …
Seit 2003 betreibt der Künstlerverein ThalwilerHofKunst die «ArtBox»: zwei ausgediente Zugführerkabinen auf den Perrons 4 und 6 des Bahnhofs Thalwil. Aktuell zeigt hier das Duo Hauser&Heberlein seine «Reisetagebücher» – ausgehöhlte Bücher, in denen sich Weggeworfenes, Verlorengegangenes und allerlei Krimskrams zu poetischen Assemblagen gesellen. Hauser&Heberlein haben ihre Arbeiten auf Regalen, Stühlen und Beistelltischen angeordnet. So werden aus den anthrazitfarbenen, 2,4 Meter hohen, 1,6 Meter breiten und 1 Meter tiefen Kabinen zwei charmante Wunderkammern.
Kunst direkt zum Menschen tragen
Dass gerade Kleines eine grosse Wirkung entfalten kann, beweisen mittlerweile zahlreiche Schaufenster und Schaukästen, ausgediente Telefonkabinen, Wartehäuschen und Kioske in der ganzen Schweiz, die in Ausstellungsflächen verwandelt wurden. Sie zu belächeln, wäre ein Fehler. «ArtBox» etwa ist unter Künstlerinnen und Künstlern ein gefragter Ausstellungsort. «Wir sind mittlerweile weitherum bekannt», erzählt Urs Amstutz vom Verein ThalwilerHofKunst. «Deshalb werden meistens wir von Kunstschaffenden angefragt, ob sie bei uns ausstellen dürfen.»
Ausstellungen abseits der Museen und Galerien haben in der Kunstgeschichte eine lange Tradition. Bereits ab dem späten 19. Jahrhundert setzten sich Künstler wie Gustav Courbet oder Édouard Manet bewusst mit eigenen Ausstellungsräumen von den etablierten Institutionen ab. Auch später behaupteten sich Avantgarde-Bewegungen immer wieder mit sogenannten Offspaces. Diese Künstler wollten ihre Werke bewusst nicht in den bürgerlichen Kunsthäusern zeigen, sondern in Zwischennutzungen und Aktionsräumen – dort, wo Werk und Ort sich gegenseitig in ihrer Bedeutung unterstützen. In dieser Tradition kann man auch die Mini-Ausstellungsräume von heute sehen: Oft entstehen sie auf Initiative von Künstlergruppen oder Privatpersonen. Stets haben sie zum Ziel, Kunst direkt zu den Menschen zu tragen.
Nahe bei den Menschen sein – das war wohl selten so einfach wie an einem Bahnhof, den täglich gut 20 000 Pendler benützen. Tatsächlich hat sich das Projekt «ArtBox» als kleiner Kunstausflug für zwischendurch herumgesprochen. «Es gibt Menschen, die extra in Thalwil umsteigen oder einen Zug überspringen, wenn wir eine neue Ausstellung haben», sagt Urs Amstutz.
«Demokratisierung des klassischen Schauraums»
Ebenfalls mitten im Alltag, im Stadtleben von Thun, findet man den Kunstraum Satellit. Seit 2019 betreibt ein Verein diesen als Schaufenster im ausgedienten Kiosk am Guisanplatz. Autos kurven hier durch den Kreisel, der Bus hält in der Nähe, Passanten sind unterwegs ins Stadtzentrum. Für Co-Kuratorin Katrin Sperry macht die Lebendigkeit den Standort aus. Viele Menschen gingen am Kunstraum vorbei, die nichts mit Kunst zu tun hätten oder explizit eine Ausstellung anschauen wollten. «Wir sehen den Satelliten als eine Art Demokratisierung des klassischen Ausstellungsraums im Museum, weil er allen stets zugänglich ist», so Sperry.
Von Thalwil über Brunnen bis nach Genf
Oft ist es das Wechselspiel zwischen drinnen und draussen, das solche Projekte spannend macht. Die Ausstellungen in der «ArtBox» drehen sich stets um Themen wie das Reisen. Im «Satellit» gehen Installationen wie aktuell Daniel Hausigs «Wetterleuchten #5» auf Aspekte des urbanen Lebens ein. Auch anderswo beleben diese Räume Quartierstrassen, Plätze und Bahnhöfe, treten in den Dialog mit der unmittelbaren Umgebung. An der Zürcher Meinrad-Lienert-Strasse stellen Carmen Oswald und Felix Schwarz im Monatsrhythmus wechselnde Kunst im Schaufenster ihres Ladenlokals aus. An der Dienerstrasse 33 bespielen Studentinnen und Studenten der Zürcher Hochschule der Künste jeweils für ein Jahr ein Schaufenster. In Genf ist der «Zabriskie Point» in einem ehemaligen Wartehäuschen am Rond-Point de Plainpalais einquartiert. Im Bahnhof Brunnen hauchte das Projekt «Kunstkabine» gleich zwei alten Telefonkabinen neues Leben ein. Und in der Vitrine an der Aussenfassade des Luzerner Neubads stellt ein Kollektiv Arbeiten aus, die sich mit den aktuellen Gesellschaftsfragen befassen.
Kunstbetrachtungen, bis die nächste S-Bahn fährt
Bisweilen sind die Mikro-Galerien selber schon den Ausflug wert. Die «Kunstkabine» im thurgauischen Weinfelden, eine einstige Telefonkabine beim Kongresszentrum Thurgauerhof, ist ein kleines Schmuckstück der Nachkriegsarchitektur. Und das «MiniMuseum» im Berner Oberländer Ferienort Mürren ist ein innovatives Dorfmuseum, das einen zehn Schaukästen, Schaufenster und Telefonkabinen entlang durch den kleinen Ort und dessen Geschichte führt.
Im Bahnhof Thalwil rumpelt an diesem Freitagnachmittag gerade ein schwerer Güterzug auf Gleis 6 vorbei. Und die «ArtBox» hat endlich Besucher erhalten. Ein junger Mann und eine ältere Dame studieren die Bücher von Hauser&Heberlein. Wenigstens so lange, bis die S-Bahn Richtung Zürich einfährt. Aber wer sagt schon, man müsse sich immer stundenlang mit Kunst befassen.
Kleinstkunsträume
Daniel Hausig – Wetterleuchten #5
Bis Do, 10.3. Kunstraum Satellit Thun BE
Die Erfolgsgeschichte des internationalen Schneesports
Bis Mi, 30.11. MiniMuseum Mürren BE
Reisetagebücher – Hauser&Heberlein
Bis Mo, 21.3. ArtBox Perron 4 + 6 Bahnhof Thalwil ZH
Nicole Schröder
Bis Fr, 11.3. Im Fenster Meinrad-Lienert-Strasse 5 Zürich
Andrea Fortmann – This is all contracted
Bis Do, 14.4. Keinraum Neubad Luzern
Diana Seeholzer – Oase Sa, 19.2.–Sa, 26.3.
Kunstkabine Bahnhof Brunnen SZ