Wie langsam sich die Gesellschaft verändert, lässt sich auch an der Werbung ablesen. Über Jahrzehnte bewarb die Firma Storck seine Toffifee als Süssigkeit für Vater, Mutter und drei Kinder. «Es steckt viel Spass in Toffifee ...» – erst seit 2023 gilt dieser Slogan auch für «Seelenverwandte». Denn, egal ob politische Debatte, TV-Serie oder Sportberichterstattung: Die Formel Vater-Mutter-Kinder gilt noch immer oft als Standard. Das Ideal von der bürgerlichen Kleinfamilie ist etwa so hartnäckig wie Karamell, das in den Stockzähnen klebt.
Neue Formen auf dem Vormarsch
Dabei verändert sich die Familie nicht erst seit gestern. Emanzipationsbewegung, neue Vorstellungen von Elternschaft und der Wandel in der Berufswelt sorgen schon seit Jahrzehnten für Umbrüche. Noch nie gab es in der Schweiz so viele Patchwork-, Regenbogen- und Einelternfamilien. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD prognostiziert in ihrer Studie «Families to 2030» eine weitere Zunahme von Familienformen, die von der bisherigen Norm abweichen.
Diana Baumgarten beobachtet diese Entwicklung. Die Soziologin forscht unter anderem zu den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Sie spricht von der Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz: «Einerseits sehen wir, dass die Menschen neue Familienformen ausprobieren, die zu ihren Bedürfnissen passen. Andererseits ist ein Kampf ums Bewahren der bürgerlichen Kleinfamilie zu beobachten.»
Kunstwerke beleuchten den Familienverbund
Diana Baumgarten war auch an der Studie «Doing Family» beteiligt, die unter anderem Empfehlungen für eine zukunftsgerichtete Familien- und Sozialpolitik in der Schweiz ausarbeitete. «Ziel ist nicht, traditionelle Familienformen abzuschaffen», betont sie. «Die Menschen sollen die Form leben können, die zu ihnen passt. Wichtig ist aber, dass Steuergesetze, Heirats- und Erbregelungen künftig weniger der bürgerlichen Norm entlang formuliert werden, sondern der gelebten Vielfalt entsprechen.»
Mit der Familie als Tradition, Idee und Lebensform setzt sich jetzt auch das Kunstmuseum St. Gallen auseinander. Die internationale Gruppenausstellung «Burning Down the House – Rethinking Family» beleuchtet das Thema sowohl aus kunsthistorischer als auch aus gesellschaftspolitischer Perspektive. So erscheint zeitgleich mit der Ausstellungseröffnung die Studie «Die Zukunft der Familie» des Gottlieb-Duttweiler-Instituts.
Was die Kunstwerke betrifft, ist Kuratorin Melanie Bühler eine spannende Mischung gelungen. Fotografien erinnern an Bobby Bakers essbare Familie von 1976. Mit ihrer Installation thematisierte die britische Künstlerin damals die Rollenverteilung und den Einfluss von Politik und Wirtschaft auf das Private. Auch die japanische Künstlerin Kyoko Idetsu beschäftigt sich in ihren cartoonhaften, verschachtelten Bilderwelten mit der männlich dominierten Arbeitswelt und der oft als weiblich angesehenen Pflegearbeit. In den surrealen Gemälden der belgischen Malerin Laurence Durieu wiederum lösen schweigende Familien Unbehagen aus.
Und in den grotesken Zeichnungen der Iranerin Tala Madani ist das Zuhause gar Ort der Gewalt und der Abgründe. Somit spricht die St. Galler Ausstellung an, was in der Gesellschaft gerne tabuisiert wird: Die Familie ist für Konflikte und Gewalt besonders anfällig.
«Sozialisation findet in der Familie statt»
Weshalb das so ist, fragt man am besten Dominik Schöbi. Der Psychologe forscht an der Universität Fribourg zu Paar- und Eltern-Kind-Beziehungen. «Ein grosser Teil unserer Sozialisation findet in der Familie statt», sagt Schöbi. Er vergleicht die Familie mit einer Art Arena, in der Kinder Emotionen ausprobieren und auch mal Grenzen überschreiten können. «Die Familie lässt sich nicht mit anderen sozialen Kontexten vergleichen. Sie bietet einem einen grösseren Verhaltensspielraum: Konflikte können offener ausgetragen werden als in der Schule oder später am Arbeitsplatz.»
Mit der Sozialisation lässt sich laut Schöbi auch erklären, weshalb wir selbst als Erwachsene noch mit den Eltern knatschen oder weshalb auch in der Schweiz Gewalt in der Erziehung nur langsam zurückgeht. «Wir lernen von klein auf Muster für den Umgang mit gewissen Situationen.» Diese Modelle legten sich sehr beständig an, sodass auch eine erwachsene Person etwa in stressigen Situationen automatisch darauf zurückgreife. Schöbi sagt: «Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder, die von ihren Eltern geschlagen wurden, später ebenfalls eher ihre Kinder schlagen.»
Geisterwesen inklusive bei den Inuit
Bleibt zum Schluss noch die Frage, weshalb sich mit der bürgerlichen Kleinfamilie ein Ideal aus dem 19. Jahrhundert überhaupt so lange halten konnte. «Man hat den Menschen immer wieder eingeredet, dass dieses Familienideal das richtige ist», sagt die Soziologin Diana Baumgarten – und zählt Predigten und Erziehungsschriften, «natürliche» Geschlechterhierarchien und Eheratgeber auf, welche die Vater-Mutter-Kind-Norm zementierten.
Zumindest in der Ausstellung «Burning Down the House» wird diese Legitimationskette aufgebrochen. Ryan Trecartins Experimentalfilm «I-Be Area» von 2007 etwa zeigt eine Utopie, in der Familienstrukturen und Geschlechteridentitäten variabel sind. Und die Inuit-Künstlerin Shuvinai Ashoona bezieht sich auf den Animismus ihres Volkes anstatt auf eine europäisch geprägte Weltsicht. In ihre Darstellungen von Alltagsszenen mischt sich Fantastisches: Menschen, Chimären und Geister- wesen halten sich an den Händen, geben sich halt. Denn dafür ist die Familie doch da – egal, welche Form sie annimmt.
Burning Down the House – Rethinking Family
Sa, 1.6.–So, 8.9.
Kunstmuseum St. Gallen