«Es zog mich vom knisternden Leben immer mehr zum Wesenhaften.» So beschrieb der Künstler Franz Gertsch einmal seinen Rückzug ins beschauliche Rüschegg und seinen neuen Fokus. Er malte plötzlich Gräser und Gewässer statt wie in den 70er-Jahren Szenegänger und Selbstdarsteller.
Das Museum Franz Gertsch legt mit seiner neuen Ausstellung pünktlich zum 90. Geburtstag des Meisters den Fokus klar auf die wilden Zeiten, als Gertsch seinen Durchbruch mit fotorealistischer Malerei erlebte. Mit dem Porträt der stadtbekannten Zürcher Prostituierten und Künstlermuse Irene Staub endet die Schau. Das Porträt «Irene» (1980) zeigt eine verlebte, aber immer noch schöne Femme fatale. Sie repräsentiert das Ende einer Epoche, die frei und unbeschwert war. Harte Drogen und Aids würden in den folgenden Jahren ihren Tribut fordern. «Irene hatte sich etwas reingezogen, und ich habe sie fotografiert, als sie sich nur mit einem Büstenhalter bekleidet schminkte», erinnert sich Franz Gertsch an die 1987 bei einem mysteriösen Töffunfall in Thailand verstorbene Domina und fügt an: «Sie war eine tragische Figur.»
Untypische Kinderzeichnungen
Seit 1976 lebt Franz Gertsch, vierfacher Familienvater, mit seiner Frau Maria Gertsch in einem Bauernhaus in Rüschegg, an einem auffällig stillen Ort. Sein meditatives Gemälde «Schwarzwasser II» lädt in der Kirche auch Nichtgläubige zur Kontemplation ein.
Franz Gertsch empfängt in seinem mit Kakteen bestückten Wintergarten zum Gespräch. Ein junges Pferd trabt an der Glasfront vorbei. Das Landleben kennt Gertsch aus seiner Kindheit. Er kam 1930 in Mörigen am Bielersee zur Welt: «Mein Vater war Dorfschullehrer, meine Mutter die Wirtstochter vom ‹Sternen›.» Noch im Vorschulalter habe er eine Frau gezeichnet, die unter dem Titel «Die Schwiegermutter tanzt» in die Familien- und Kunstgeschichte eingehen sollte. «Mein Vater war erstaunt, wie untypisch meine Zeichnung für ein Kind war.» Sein Talent hatten die Eltern zwar erkannt, doch waren sie der Überzeugung, er solle ein «richtiges» Handwerk lernen.
Die Familie hatte Mörigen zugunsten von Bern verlassen, weil der Vater dort eine Stelle angenommen hatte. «Wichtig waren für mich die Sonntagvormittagsbesuche mit meinem Vater im Berner Kunstmuseum.» Bilder wie «Der Tag», «Die Nacht» oder «Der Auserwählte» von Ferdinand Hodler hätten ihn am meisten beeindruckt.
Anerkennung vom LSD-Papst Timothy Leary
Gertsch konnte sich schliesslich gegen die Bedenken seiner Eltern durchsetzen und besuchte die Kurse beim damals modernsten Maler in Bern, dem abstrakten Expressionisten Max von Mühlenen (1903–1971). «Ich bereue es noch heute, dass ich mich nicht von ihm verabschiedet habe», sagt Gertsch, der den Kurs bald abbrach. Doch er habe weiterziehen wollen, und der Lehrer hätte ihn sicher überredet zu bleiben.
Mit einem Stipendium von 1400 Franken ging Gertsch nach Paris. «Ich hatte einfach das Gefühl, dass es mir nicht genügt, was man in Bern zu jener Zeit machte.» Er, der sich als Romantiker verstand, liess sich in altmeisterlichen Techniken wie dem Malen mit Eitempera oder dem Auftragen von Harzfarblasuren ausbilden. 1964 gab es einen ersten Bruch mit diesem Frühwerk. Gertsch entdeckte die Popart für sich. «Danach bin ich in eine Krise geraten», fasst er diese Zeit zusammen.
Es sei im Frühling 1969 gewesen, als er auf dem Monte Lema gestanden habe und plötzlich wusste: «So muss ich malen.» Da er die Realität nun 1:1 darstellen wollte, brauchte er eine Fotokamera. «Ich kannte die US-amerikanischen Fotorealisten noch nicht», erinnert sich Gertsch an dieses Erweckungserlebnis. Ein Betttuch habe er auf ein Chassis gespannt, um die nötige Grossformatigkeit zu gewährleisten. Es entstanden Bilder nach Schnappschüssen aus dem Familienalbum wie «Maria und Benz» (1970). Es zeigt die junge Maria Gertsch mit einem der Kinder auf einer Alp. Die Farben leuchten geradezu psychedelisch. Es erstaunt nicht, dass der US-amerikanische Guru Timothy Leary (1920–1996) von diesen Bildern begeistert war. Nach einem Besuch in Gertschs Atelier an der Aare schrieb der LSD-Papst, diese Bilder seien «mysterious», «erotic» und «so human».
Die Begegnung mit Patty Smith
Dann lernte Gertsch die Bohemiens rund um den Kunst- und Szenestar Luciano Castelli kennen. Er und seine Wohngemeinschaft wurden durch Schnappschüsse, die Gertsch in hyper-realistische riesige Bilder verwandelte, zu Ikonen der Kunstgeschichte. Er hatte in Castellis Jugendstilvilla die Rolle des Beobachters inne. Er war gut 20 Jahre älter als seine Modelle und bereits Familienvater. «Die waren lebensfreudig und verfügbar.» Er habe schlicht keine Lust gehabt, Bankdirektoren zu malen. Natürlich habe es in Castellis Haus auch wilde Feste und Drogen gegeben. Doch er selbst habe nur einmal Haschisch konsumiert. «Ich fand fast nicht mehr aus diesem Trip hinaus. Es blieb bei diesem einen Versuch.»
Irgendwann habe es ihm gereicht mit den Castelli-Bildern. In einem Plattengeschäft entdeckte Gertsch das legendäre Cover des Albums «Horses» der Punk-Ikone Patty Smith. «Ich dachte, diese Frau wäre ein gutes Modell.» Als die Musikerin und Poetin bald darauf für eine Performance in einer Galerie in Köln auftrat, fotografierte der Künstler sie. Aus der kurzen Begegnung entstanden die Vorlagen für «Patty 1, 2, 3 und 4». «Patty 5» sei entstanden, als Smith bei einem Besuch in Rüschegg die ersten vier Kölner Bilder erstaunt in Augenschein genommen hätte und ihm und seiner Frau mit berührenden Worten dankte. Sie war bewegt, dass Gertsch ihr so viel Zeit gewidmet hatte. Tatsächlich arbeitet der Künstler an seinen Gemälden manchmal bis zu einem Jahr und länger. Ein Blick ins Atelier verrät: Er malt unermüdlich weiter. Zurzeit an überdimensionalen Gräsern.
Franz Gertsch – Die Siebziger
Sa, 21.3.–So, 16.8.
Museum Franz Gertsch Burgdorf BE
www.museum-franzgertsch.ch