Nun ist es also doch passiert: Der Vierwaldstättersee ist über die Ufer getreten, und die Fische schwimmen frei im Kunstmuseum Luzern. Oder haben die Besucher etwa die Ausstellungsräume verlassen und wandeln am Seegrund?
Die vielen kleinen Bronzefische von Ugo Rondinones Installation «Primordial» heben auf traumwandlerische Art Grenzen auf. Innen oder aussen, oben oder unten – bei Rondinone ist das nicht immer ganz sicher.
Das Spiel in Luzern hat Kalkül. Der Schweizer Konzept- und Installationskünstler blickt im Kunstmuseum auf gut 30 Karrierejahre zurück. Dabei signalisiert die Retrospektive «Cry Me a River» für den Künstler auch eine Art Rückkehr: Der See vor der Museumstür verbindet Rondinones Weltkarriere mit seiner Heimat.
Rondinone wächst in Brun nen auf und besucht das Lehrer seminar in Schwyz, bevor er ab 1985 an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien studiert. Mitte der 1990er zieht es ihn nach New York, wo er sich eine Weltkarriere aufbaut. Seine Arbeiten bestechen schon früh durch ein ständiges Spiel mit Grössenverhältnissen, räumlichen Kategorien und unserer Wahrnehmung von Materialien und Zeit. Ein beständiges Thema seiner Kunst: die Natur.
Mal melancholisch, mal schelmisch
In ihr findet der Künstler Trost, als sein erster Freund 1989 an Aids stirbt. Rondinone malt verschwommene Kreisbilder, für die jemand die flirrende Sonne pausiert zu haben scheint. Und altmeisterliche Tuschelandschaften, in denen nichts geschieht. Rondinone kocht die Natur ein, bis er reine Atmosphäre hat. Die Resultate sind mal wunderbar optimistisch, mal von schelmischem Witz, mal tief melancholisch. Auf ewig spannen sich Regenbogen als Symbole der Hoffnung und Toleranz durch sein Werk.
Seine riesigen Steinmännchen sind Hommagen an die Orientierungshilfen aus dem Alpenraum. Archaisch, wuchtig – und doch berührend. In Luzern sind sie mit der Doppelskulptur «The Love + the Lust» vertreten. Seine Installation «Thank You Silence» wiederum lässt es in einem Ausstellungsraum schneien – eine erheiternde Erinnerungsmaschine, die die friedliche Stimmung eines Wintertages evoziert.
Eines der Ausstellungshighlights dürfte aber die jüngere Skulptur «Glorious Light» sein. Sie zeigt einen über sechs Meter hohen verästelten Blitz aus bemalter Bronze. Die Oberflächenstruktur deutet an, dass Rondinone einfach einen Ast zum mächtigen Blitz vergrössert hat. Aus der Entfernung wiederum scheint es, als habe sich der Künstler tatsächlich ein unbändiges Wetterphänomen kleingezüchtet. Gefahr und Schönheit halten sich auf einmal die Balance. Und was für gewöhnlich nur eine Sekunde dauert, dehnt sich hier zur Ewigkeit aus. Die Kraft dieser poetischen Geste trifft den Betrachter: wie ein Blitz.
Imposanter Blick ins Blaue
Bleiben noch zwei Gemälde, die der 59-jährige Künstler extra für die Retrospektive in Luzern gemalt hat. Die Doppelarbeit «Sechstermaizweitausendundvierundzwanzig» zeigt eine gebirgige Seenlandschaft in Blautönen. Die Bilder rufen Arbeiten von Ferdinand Hodler in Erinnerung. Trotz flächigem Farbauftrag ziehen sie einen ins Bild hinein. Die Perspektive erinnert an die imposante Sicht, die man von Brunnen aus auf den Vierwaldstättersee hat. Die Richtung ist jene, die das Schiff nach Luzern nimmt. Ob diese Ansicht den jungen Ugo Rondinone einst in die weite Welt ziehen liess? Wer in die Ferne blickt, blickt doch immer auch in sein Innerstes.
Ugo Rondinone – Cry Me a River
Mo, 8.7.–So, 20.10.
Kunstmuseum Luzern