Stellen Sie sich vor: Ausgerechnet Sie wurden dazu erkoren, ein paar dankende Worte an die Reiseleiterin zu wenden. Über das Mikrofon im Car. Vor der ganzen Reisegruppe. Sie werden nervös – was, wenn Sie sich verhaspeln? Was werden die anderen wohl über Sie denken? Für viele von uns ist diese Vorstellung unangenehm. Wir zieren uns, vor vielen Menschen aufzutreten, an einer Party jemanden anzusprechen, den unaufmerksamen Kellner zu rufen. Weil wir Hemmungen haben.
Jeder Mensch ist ein Experte
Schon der Berner Troubadour Mani Matter besang in «Hemmige», wie wir zu diesem diffusen Gefühl stehen: Als «grosses Päch» empfinden wir es, weil es uns einzuschränken scheint. Dennoch macht uns der Gedanke Angst, die Menschen würden gar keine Hemmungen kennen. «Matter hat es auf den Punkt gebracht», sagt Ulrich Schenk, Kurator am Museum für Kommunikation in Bern. «Hemmungen sind zwar mühsam, aber nur dank ihnen funktioniert das Zusammenleben in der Gesellschaft.» Schenk hat sich eineinhalb Jahre mit dem Thema auseinandergesetzt. Das Resultat ist die neue Wechselausstellung «Schweinehunde und Spielverderber». Was den Kurator am Thema fasziniert: Es ist sehr menschlich, jeder ist Experte. Und Hemmungen haben viel mit Kommunikation zu tun: «Sie entstehen dann, wenn ich ein reales oder imaginiertes Gegenüber habe», so Schenk. «Und auch um sie zu überwinden, muss ich sie zum Thema machen und mit anderen Menschen darüber sprechen.»
Das Thema ist aktuell: Social Media scheint die Grenzen des akzeptablen Verhaltens im öffentlichen Raum verschoben zu haben. Zahlreich sind die Youtube-Videos, in denen sich Menschen ungeniert singend inszenieren. Ebenso häufig waren in den letzten Jahren die Diskussionen über verbal entgleiste Gesellschafts- und Politdebatten auf Twitter oder in Online-Kommentarspalten. Soziologen befürchten, die Verrohung in unserem Umgang schwappe allmählich in die analoge Welt über.
Ulrich Schenk glaubt nicht daran, dass die heutige Gesellschaft weniger Hemmungen kennt. Für ihn ist Social Media eine Blase: «Da die User kein direktes Gegenüber haben und die Reaktionen verzögert kommen, überschreiten sie Hemmungen, die sie im Alltag nicht übertreten würden.» Dennoch soll seine Ausstellung den Besuchern bewusst machen, wie wichtig Hemmungen manchmal sind: «Sie sind die Impulskontrolle, die mich und meine Mitmenschen vor mir selber schützen.»
Die Besucher müssen auf die Bühne
Dazu werden die Besucher mit ihren eigenen Hemmungen konfrontiert; sind angehalten, manche gar abzulegen. Das beginnt schon am Eingang der Ausstellung. Man findet sich vor einem Spiegel eines Theater-Umkleideraums. Über einen Touch-Screen registriert man sich für seinen Auftritt: Nur kurz winken? Gar ein Lied singen? Dann geht es ab auf die kleine Bühne und vor ein Publikum mit Ausstellungsbesuchern. Sorgt diese Vorstellung bei Ihnen schon für Lampenfieber? Überlegen Sie sich einfach, welches Lied Sie singen würden. Wie wäre es damit?
s’git lüt, die würden alletwäge nie
es lied vorsinge, so win ig jitz hie
eis singen um kei prys,
nei bhüetis nei
wil si hemmige hei
Schweinehunde und Spiel-verderber. Die Ausstellung über Hemmungen
Fr, 15.11.–So, 19.7. Museum für Kommunikation Bern