William Kentridge drückt aus, wie sich die letzten Monate für viele Menschen irgendwann einmal anfühlten. In der neuen Video-Arbeit «Prisoner in the Book» – «Der Gefangene im Buch» – wird der Künstler gehend auf die Seiten eines Notizheftes projiziert. Auf einmal verstellt ein senkrechter roter Strich den Weg. Eine Hand mit einem Farbstift hat Kentridge mitten im Schritt gestoppt. So, wie die Pandemie den Bewegungsraum vieler Menschen von heute auf morgen einschränkte.
«Prisoner in the Book» ist einer von sechs Kurzfilmen des südafrikanischen Künstlers und Teil der Kollektiv-Videoarbeit «The Long Minute». Kentridge, bekannt für seine gesellschaftskritischen Stop-Motion-Filme und Kohlezeichnungen, zeigt sich hier von seiner humoristischen Seite. Seine Filme sind wunderbare Miniaturen aus dem Atelier: Mal lässt er ein Sousafon auf einem Drehstuhl tanzen, mal tigern gleich zwei Kentridges durch den Raum und zählen die Sekunden.
«Jede und jeder kennt die Gefühle»
Zu sehen gibt es die Arbeiten in der Ausstellung «Unvergessliche Zeit» im Kunsthaus Bregenz. Die Sonderschau zeigt Werke von sieben namhaften Kunstschaffenden, die entweder während der Corona-Krise entstanden sind, oder die sich als Vorahnung auf diese lesen lassen. Die Idee dafür sei spontan entstanden, sagt Kunsthaus-Direktor Thomas D. Trummer. Corona habe in Künstlerkreisen für Aktivität gesorgt. «Und was derzeit entsteht, ist hochinteressant. Ich bin überzeugt, dass es die Künstlerinnen und Künstler sind, die mit ihren Bildern unsere Erinnerungen und Ängste aus der Krise bewahren.»
Tatsächlich vereint «Unvergessliche Zeit» vielschichtige Bilderwelten, welche die Empfindungen und Themen der letzten Monate wiedergeben. Hier Langeweile, Verzweiflung und Angst, dort soziale Spannungen, Krankheit und Tod. Thomas D. Trummer ist auf die Reaktion der Besucher gespannt: «Jeder und jede ist Spezialist für das Thema Corona – weil jeder aus dem eigenen Innenleben weiss, um welche Gefühle es hier geht.»
Da ist zum Beispiel der stille, beobachtende Blick in der Videoarbeit «They Call It Idlewild». Die britische Künstlerin und Turner-Prize-Gewinnerin Helen Cammock verbindet Bilder von Landschaften, Nahaufnahmen von Sofas, Töpferscheiben und Mauerritzen mit poetischen Texten, Roman-Zitaten und Liedern.
Menschen als Spielbälle der Geschehnisse
Helen Cammock mustert, beobachtet ihre Umgebung – wie es der eine oder andere während der Quarantäne wohl auch vermehrt getan hat. Dabei stösst sie Gedanken zur heutigen Arbeitswelt an und zelebriert den Müssiggang.
Das Gemälde «Grita» des österreichischen Künstlers Markus Schinwald stammt aus einer ganzen Serie, die ab den 1990er-Jahren entstand – und könnte aktueller nicht sein: Schinwald hat der jungen Dame auf dem Biedermeier-Porträt eine Gesichtsmaske verpasst. Das lässt den Betrachter schmunzeln, erinnert es doch an eine der illegalen Museums-Interventionen des Street-Art-Künstlers Banksy. Bis sich Fragen aufdrängen: Was bedeutet eine Pandemie denn für eine individualisierte Gesellschaft?
Die Serie «Chalk Outlines» des libanesischen Künstlers Rabih Mroué schliesslich zeigt Umrisse menschlicher Figuren; mal mit, mal ohne Text. Sie könnten liegen oder treiben, schlafen oder tot sein. Bei Mroué sind die Menschen Spielbälle der Geschehnisse, sie befinden sich in der Schwebe. Sie müssen lernen, das auszuhalten.
Unvergessliche Zeit
Bis So, 30.8.
Kunsthaus Bregenz (AT)