«Ich bin überwältigt», sagt Sonika Soni. Monatelang hat die Gastkuratorin aus Indien Gemälde aus der Sammlung des Museum Rietberg untersucht. Sie erforschte Ragamalas, eine Form der indischen Miniaturmalerei.
Die Werke aus dem 17. bis 19. Jahrhundert sind in Zürich erstmals so zu sehen, wie sie damals indische Königinnen und Könige betrachtet hatten: begleitet von Musik und Poesie.
«Ragamala-Bilder visualisieren Musik», erklärt die studierte Kunsthistorikerin und Konservatorin. Alles beginnt mit einer melodischen Struktur, über die improvisiert wird, mit feinsten Zwischentönen. Unbekannt in der westeuropäischen Musik. Verse beschreiben die Melodien und Stimmungen als menschliche Charaktere. Letztere werden mit kleinsten Pinselstrichen auf Papier gemalt.
«Bevor wir unseren Rundgang beginnen, möchte ich, dass Sie eine Erfahrung aus erster Hand machen.» Soni bittet in die Mitte des Raumes – «hier kommen die drei Kunstformen zusammen».
«Ich bin der Frühling, der König aller Jahreszeiten»
Im Schaukasten liegt ein Bild. Leuchtende Farben. Ein Mann in gelbem Gewand sitzt auf einer grossen Holzschaukel, Frauen in Rot umringen ihn. Links steht ein grüner Baum, oben fliegen weisse Vögel durch ein unruhiges Wolkenmeer. Neben dem Bild ein Vers: «Ich bin der Frühling, der König aller Jahreszeiten. Ich bringe die Farben der Liebe und Freude.» Aus Kopfhörern ertönen Vogelrufe, eine Trommel, die Stimme einer Frau, die verspielt auf- und absteigt.
«Haben Sie es gefühlt?», fragt Soni. Ja. Da ist ein Sog, den diese Kombination aus Sehen, Lesen, Hören – Fühlen – entwickelt. Nichts ist zufällig in dieser Komposition. Das Gewand von König Frühling ist gelb wie die zu dieser Jahreszeit blühenden Senffelder.
Pflanzen, Menschen und Tiere kommen zusammen, nur um die neue Jahreszeit zu begrüssen. Die Stimme im Lied imitiert die Bewegung der schwingenden Schaukel.
24 solcher Stationen mit Versen, Bildern und Musik sind in einem Kreis angeordnet. Sie sind unterteilt in acht Zeitabschnitte, die der Tag in Indien früher kannte. Diese sind wichtig für die einzelnen Ragas oder Raginis, wie die Kompositionen heissen, wenn Frauen im Mittelpunkt stehen. Denn sie richten sich nicht nur nach Jahres-, sondern auch nach Tageszeiten. «Es ist wie mit Weihnachtsliedern. Man kann sie im Juni singen und hören, aber es ist nicht dasselbe wie unter dem Christbaum», sagt Soni. Und so ist das Frühlings-Raga für die Zeit zwischen 3 und 6 Uhr morgens gedacht.
Von Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Melancholie
Was vielen Werken über Zeiten hinweg gemein ist: Sie erzählen von Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Melancholie. Oft verzehren sich Königinnen nach ihrem König. Im Savant-Sarang-Ragini wirft die Königin die Arme über den Kopf, schlägt ihre Beine eng übereinander. «Sie versucht mit aller Kraft, ihr Verlangen zu kontrollieren.» Ihre Freundinnen helfen – um ihre innere Hitze zu lindern, beträufeln sie die Königin mit Rosenwasser, gegen die äussere Hitze fächern sie ihr Luft zu.
Mithilfe von zwei Forschern aus den USA und Indien hat Soni diese Szene und weitere Bilder in Düfte übersetzt. Auf Wandregalen stehen gläserne Trichter mit Wattebäuschchen. Hier der Baum mit rohen Mangos, der neben der Königin wächst, dort das Dach aus Vetiver-Süssgras, unter dem sie liegt. Auf einem der Ragas steigt ein Bär aus einem Teich. «Die erste Version roch richtig schlimm», lacht Soni. Das nasse Fell wurde besänftigt mit Lotus, der im Teich schwimmt.
Die Duftwand ist eine von mehreren Stationen, welche die Ragamalas in ihre Details aufschlüsselt und die Kunst erfahrbar macht, ohne dafür viel lesen zu müssen. Über Bildschirme erklären Expertinnen die Lieder, auf Leinwänden entfalten sich Animationen zu den Versen.
Mit Maschinen kann man eigene Ragas komponieren und selbst arrangierte Gedichte ausdrucken. Vier Bilder sind taktil umgesetzt, also auch ohne sehende Augen zugänglich. Wer einfach nur Musik hören möchte, kann die Ragas per QR-Code aufs Smartphone holen oder die Playlist über bereitliegende Tablets abrufen. Die digitalen und interaktiven Elemente wirken nicht gesucht, sondern ermöglichen ein individuelles Erlebnis.
Individuell haben sich früher auch Königinnen und Könige die Ragamalas zu Gemüte geführt. Im Beisein von Freunden und Familienmitgliedern betrachteten sie die teuren Auftragsarbeiten und lasen die dazugehörigen Gedichte. Musiker spielten die passenden Lieder. «Maximaler Impact von Kunst», nennt Soni diese multisensorische Erfahrung.
Damit das heutige Publikum die Malerei umfassend erleben kann, hat das Museum einen riesigen Aufwand betrieben. Die Musik, die man zu den Bildern hört, wurde extra neu interpretiert und eingespielt, mithilfe von Sonis Forschung in Zürich. «Es war aufregend, Melodien zum Leben zu erwecken, von denen einige seit 200, 300 Jahren nicht mehr gespielt wurden.»
Zwei zeitgenössische Ragas als Exklusivitäten
Aber lohnt sich all das? Was können uns Ragamalas heute geben? «Sie sind inspirierend, sie sprechen über das Leben, sie verbinden uns durch universelle Emotionen», sagt die Gastkuratorin. In der indischen Musik seien die teils jahrtausendealten Melodien bis heute populär. Die Ragamala-Malerei hingegen – praktisch ausgestorben.
Und so sind die zwei zeitgenössischen Ragas, die das Museum Rietberg bei Künstlern aus Pakistan und Indien in Auftrag gegeben hat, Exklusivitäten. Die Verbundenheit und die Dringlichkeit, die Soni in Ragamalas spürt, finden hier neue Formen. Das Feuer in der Mitte des einen Bildes brennt nicht nur aus Freude über den Frühling.
Es symbolisiert auch den Klimawandel. In der zweiten Auftragsarbeit ziehen Wolken über indische Wälder, die nahtlos in die steilen Hügel des Tessins übergehen, wo der Maler seinen Schaffungsprozess antrat.
Und so fühlt sich Ragamala am Ende näher an, als es das Etikett einer alten Kunstform eines anderen Kontinents vermuten lässt. Ragamala geht ins Herz, dorthin, wo Liebe und Sehnsucht sitzen, von der die Bilder und Melodien erzählen.
Ragamala – Bilder für alle Sinne
Bis So, 19.1. Museum Rietberg Zürich