Die schäbige Imbissbar heisst «Joe’s». Auf einem Tisch ist ein Blutfleck zu erkennen – oder doch eher Ketchup? Daneben vergammelt ein angebissener Burger. An der Wand hängt ein Zigaretten-Automat, weiter oben ein alter TV-Apparat mit Sport-Übertragungen – alles aus Pappkarton kreiert.
Das ist die Welt des Rinus Van de Velde. Der belgische Künstler hat mit seinem Werk «Joe’s» eine Filmkulisse geschaffen, was sich auf den ersten Blick nicht erschliesst. Einzig ein ominöser Kanister in roter Farbe auf dem Dach der Kartonbude deutet darauf hin, dass hier etwas nicht ganz so sein kann, wie es scheint. Der Schuppen «Joe’s» begrüsst das Publikum in der Ausstellung «I’d rather stay at home …» im Kunstmuseum Luzern. Man begegnet ihr ein zweites Mal in der Schau, diesmal in der Videoproduktion «The Villagers». Hier gibt es Action: Die rote Farbe aus dem Kanister verspritzt nach zwei Schüssen, denen der Künstler und der Barkeeper zum Opfer fallen. Kein Ketchup auf dem Tisch also, sondern Blut.
«Ich muss nicht in die Welt hinaus»
Der 37-jährige Rinus Van de Velde ist eine Ausnahmeerscheinung in der internationalen Kunstszene. Der Familienvater arbeitet in einem Atelier im flämischen Antwerpen gleich neben seinem Wohnhaus. Hier setzt er in tage- und nächtelanger Arbeit seine Fantasien in künstlerische Gegenwelten um. Im Telefongespräch sagt Van de Velde, wie sehr er sein Refugium schätzt. Er gehöre zu den wenigen, denen die behördlichen Corona-Einschränkungen gelegen gekommen sind. «Ich muss nicht in die Welt hinaus. Ich lasse lieber hier meine Gedanken umherwandern und gestalte meine eigenen Geschichten.» Beispielsweise diejenigen von einem verkrachten Künstler in einer schäbigen Bar, der einem Mordanschlag zum Opfer fällt. Wer dabei an Hollywood denkt, liegt exakt richtig. Der Künstler liebt es, mit Chiffren zu arbeiten, die er ins Groteske verfremdet.
Zwei Videoproduktionen sind in Luzern zu sehen, die beide keine stringenten Geschichten erzählen. Sie berichten in Sequenzen von schier unzähligen Möglichkeiten, die sich den Menschen eröffnen. «The Villagers» zeigt etwa entseelte Landschaften als Kulissen. Diese Bilder werden laufend von absurden Spielsequenzen unterbrochen. So fesselt sich ein verzweifelter Künstler die Beine, um sich kopfüber aufzuhängen und zu malen. Von einer solchen Episode ist es ein weiter Weg zur Imbissbar «Joe’s», doch in Van der Veldes Kosmos liegen sie näher beieinander, als man denkt.
«La Ruta natural« heisst die zweite Videoproduktion, die der Künstler mit einer über das Gesicht gezogenen Maske zum grössten Teil als Schauspieler selbst bestreitet. Da steigt er durch einen Gully in einen grotesken Maschinenraum hinunter, betätigt Hebel, Knöpfe und dergleichen mehr, um einen roten Ballon abheben zu lassen. Man möchte den Mann allzu gerne auf die Sinnlosigkeit seines Tuns hinweisen und macht sich gerade damit gedanklich zum Mitspieler in dem Film des Absurden. Auch Elemente dieser Produktion sind in der Ausstellung zu sehen, etwa die erwähnte Maske, die im Original an eine Henkermütze erinnert.
«Ich bin ein Tagträumer, der woanders lebt»
Die Sinnlosigkeit menschlicher Aktivitäten zieht sich durch die Videoproduktionen hindurch: Ein Mann brüllt auf einer Alp Unverständliches in die Welt, ein anderer zündet nach einer halsbrecherischen Autofahrt ohne erkenntlichen Grund sein blaues Cabriolet an, ein Paar flüchtet sich nach einem offenkundig künstlichen Regenguss auf ein Hausdach ohne Haus.
Der Künstler erzählt seine Geschichten nicht nur filmisch. In grossformatigen Kohle-Zeichnungen auf Leinwand regt er zu weiteren gedanklichen Eskapaden an. So zeigt er ein Bett mit zerknüllten Laken. Darunter ist auf Englisch zu lesen: «Lieber Robert, ich habe dich heute nicht gesehen …» Eine versteckte Liebeserklärung – oder doch eher die Befürchtungen einer Hintergangenen? Eine andere Kohlezeichnung zeigt einen Klischee-Cowboy, der den imaginären Betrachter bittet, nächsten Sonntag wiederzukommen.
Die Luzerner Schau bietet dem Publikum eine schier unglaubliche Reise in eine verrückte Welt – alles entstanden in einem unscheinbaren Atelier in Antwerpen. «Ich bin ein Tagträumer, der woanders lebt», sagt der Künstler von sich. Nur darin fühle er sich daheim – man glaubt es ihm gerne.
Rinus Van de Velde – I’d rather stay at home…
Bis So, 20.6. Kunstmuseum Luzern
Fünf Fragen an Rinus Van de Velde (*1983)
«Ich will das eigene Leben visualisieren»
kulturtipp: Rinus Van de Velde, Ihre Arbeiten erinnern an Träume. Schlafen Sie gut?
Rinus Van de Velde: Danke, ich kann nicht klagen. Ich verfüge über eine grosse virtuelle Datenbank mit Bildern. Da greife ich jeweils einzelne heraus und erfinde die Geschichten dazu.
Eine Mischung zwischen Märchen und Fantasy?
Nein, ich bin weit weg von «Lord of the Rings». Mir geht es um die Menschen in dieser Welt, was sie tun und was ihnen zustossen kann. Häufig sehe ich mich selbst in diesen Rollen und spiele damit, wie etwa ein Tennisspieler, der mit den Tücken seines Schlägers kämpft.
Sie schlüpfen also in verschiedene Rollen?
Exakt, ich versuche mein eigenes Leben zu visualisieren, so wie es auch aussehen könnte. Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt: Ich mache meine Kunst für mich persönlich sowie für fünf, höchstens sechs Leute, die mir sehr nahestehen. Es bringt nichts, an ein breites Publikum zu denken.
Und dennoch spielen Sie mit Elementen wie Hollywood-Chiffren, die alle kennen.
Ja, das fasziniert mich tatsächlich. Wir können uns diesen Klischees nicht entziehen, sie bestimmen unser Leben bis ins Unterbewusste. Darum tauchen sie in meinen Arbeiten immer wieder auf.
Sind Sie eigentlich mehr Künstler oder Filmemacher?
Künstler, natürlich. Die Filme entstehen mit Freunden. Wir arbeiten ohne Hierarchien, alle machen alles, stehen einmal vor der Kamera oder sie produzieren. Das macht immer grossen Spass. Ich mag die komplizierte Arbeitsteilung nicht, die auf einem richtigen Filmset herrscht.