Das Atelier der Illustratorin Anete Melece liegt versteckt in einem Hinterhof im Zürcher Stadtkreis 7. Vom Tram- und Autoverkehr ist nichts zu hören. 2013 hat Melece an der Hochschule Luzern den Master in Design & Kunst gemacht. Ihre Abschlussarbeit war der knapp siebenminütige Animationsfilm «Der Kiosk». Hauptfigur ist die Kioskfrau Olga. Sie träumt vom Meer und von Sonnenuntergängen. Als sie samt ihrem Kioskhäuschen in den Fluss fällt, lässt sie sich treiben, immer weiter bis ins Meer, bis an einen fernen Strand.
Alltagsbeobachtungen fliessen ins Buch ein
«Am Anfang meiner Geschichten steht immer eine Figur. Dann überlege ich mir, was die Figur bewegt, und entwickle daraus die Geschichte», sagt die 39-jährige Melece über ihre Arbeitsweise. «Mir ging es gut, aber ich hatte das Gefühl, ich stecke fest, ich komme nicht mehr weiter. Und so kam ich auf die Figur der Kioskfrau Olga.» Diese Herangehensweise habe «fast etwas Therapeutisches». «Ich weiss, was in der Geschichte passieren muss. Das hilft mir, in der Realität herauszufinden, wohin mein Weg gehen soll.» Meleces ständige Begleiter sind kleine schwarze und beige Notizbücher. Darin schreibt sie ihre Beobachtungen auf, zu Hause als Mutter, unterwegs oder beim Einkaufen. Hat sie mehr Zeit, macht sie Bleistift-Skizzen.
Olgas Kiosk erinnert mit seiner eigentümlichen Form an einen chinesischen Tempel. Doch Vorbild war kein Tempel, sondern ein Kiosk in der lettischen Hauptstadt Riga. Hier ist Anete Melece geboren. «Wenn Sie einmal dort sind, müssen Sie unbedingt vorbeigehen. Er steht an der Kreuzung zwischen der Krisjana-Barona-Strasse und dem Aspazijas-Boulevard», sagt sie lächelnd.
«Der Kiosk» heimste Preise im In- und Ausland ein. Darunter den Schweizer Filmpreis als bester Animationsfilm. Irgendwann kam bei Melece die Idee auf, aus dem Film ein Bilderbuch zu machen. «Für das Buch musste ich den Film vergessen und mich nochmals auf die Geschichte einlassen», erinnert sie sich. «Ich habe alles neu gezeichnet und die Geschichte auf 32 Seiten verdichtet.» Zum Skizzieren und Vorzeichnen braucht sie Bleistifte. Zum Kolorieren nimmt sie meist Arcylfarben oder Filzstifte. Die Stifte hat sie nach Farben griffbereit sortiert.
Eine Ausstellung mit über 100 Bilderbüchern
«Bilderbücher sind ein komplexes Medium», sagt Hans ten Doornkaat, langjähriger Lektor des Zürcher Verlags Atlantis. Vor zwei Jahren publizierte der Verlag Meleces Bilderbuch. Es ist zusammen mit über hundert anderen Bilderbüchern Teil der Ausstellung «Bilderbücher: illustriert & inszeniert» im Gewerbemuseum Winterthur. Das Publikum erwarten keine Illustrationen an den Wänden, sondern kurze Infotexte über visuelle Erzählformen und viele, viele Bilderbücher auf langen Tischen zum Durchblättern und Verweilen.
Ästhetische und inhaltliche Wagnisse
Bilderbücher inszenieren einfache Geschichten. Die Leserinnen und Leser tauchen ein in eine oft poetische, traumhafte und witzige Welt. «Bilderbücher sind ein mehrdimensionales Gesamtkunstwert», sagt ten Doornkaat, der auch für die Ausstellung verantwortlich ist. Bei einem gelungenen Bilderbuch spielten Bild und Text zusammen. «Beide Medien arbeiten mit unterschiedlichen Signalen, die der Betrachter verschieden schnell dekodiert. Immer aber bestimmen die Leser, wann umgeblättert wird.» Die Illustrationen liessen unterschiedliche Lektüretiefen und Lesetempi zu. «Die einen überfliegen das Ganze, andere verweilen bei Details oder träumen sich ins Bild.»
Bilderbücher sind eine Form des visuellen Erzählens und nicht einfach «nur für Kinder». Das macht die Ausstellung deutlich. «Das Medium Bilderbuch erfährt wichtige Impulse, wenn Künstler ästhetisch und inhaltlich mehr wagen und Erwartungshaltungen und Marktkonventionen unterlaufen», sagt ten Doornkaat.
Ein Beispiel ist das kleinformatige Bilderbuch «Bei mir, bei dir», erschienen im Zürcher Verlag Edition Moderne: Anisa Alrefaei Roomieh flüchtete wegen des Krieges in Syrien in die Schweiz. Heute lebt sie wie die Schweizer Illustratorin Maeva Rubli in Delsberg im Kanton Jura. Alrefaei Roomieh erzählte Rubli von ihrem Leben. Rubli hörte zu und hielt die Geschichten fest. Aus den Gesprächen machte sie ein 120-seitiges Bilderbuch ohne Worte.
Berührend ist auch das Bilderbuch «Die verlorene Seele», basierend auf einer Erzählung von Olga Tokarczuk, der polnischen Literaturnobelpreisträgerin von 2018: Ein Mann arbeitet viel und schnell. Seine Seele aber kommt mit dem hohen Tempo nicht mehr mit. Der Mann folgt dem Rat seiner Ärztin. Er hält inne, bis seine Seele ihn wieder eingeholt hat. Die Geschichte ist auf einer einzigen der 48 Seiten des Buchs erzählt. Sie ist die Textspur für die Illustrationen der polnischen Künstlerin und Illustratorin Joanna Concejo, die heute in Paris lebt.
Glückliche Kinder, glückliche Erwachsene
Anete Melece wird an der Ausstellungseröffnung in Winterthur vor Ort zeichnen und eine grosse, weisse Wand mit Figuren aus dem «Kiosk» bemalen. Die Wand wird Gucklöcher haben, durch welche die Besucher – Kinder wie Erwachsene – ihre Köpfe stecken können und so zum Teil der Szene werden. Die Menschen warten in einer Reihe vor dem Kiosk, in dem Olga sich in die Ferne sehnt.
«Träume erfüllen ist etwas, das Bilderbücher besonders gut können», sagt Anete Melece, und leise fügt sie an: «Nur aus glücklichen Kindern werden auch glückliche Erwachsene, und glückliche Menschen sind friedlich und haben keine Lust, andere zu töten.»
Ausstellung Bilderbücher – illustriert & inszeniert
So, 6.3.–So, 23.10. Gewerbemuseum Winterthur ZH
Eröffnung, Live-Zeichnen mit Anete Melece
Sa, 5.3., 16.00