Als Henri Matisse so krank war, dass er weder stehen noch einen Pinsel führen konnte, gab er seine Künstlerkarriere nicht etwa auf. Nein, der französische Künstler schnappte sich buntes Papier und eine Schere und schuf ein einzigartiges Spätwerk. «Mit der Schere malen», nannte er das – seine Scherenschnitte wurden Ikonen.
Vielleicht ist es all den Schneesternen und Blumen aus dem Schulbasteln geschuldet, dass der Scherenschnitt noch immer einen etwas klischeebehafteten Ruf geniesst. Vielleicht ist es die einseitig-folkloristische Konnotation. Caquelon, Mostflasche, Flugzeuge und Lokomotive – so manches wurde in den letzten Jahren mit Variationen von Alpaufzügen und anderen traditionell anmutenden Scherenschnitten beklebt. Ach, wie wunderbar lässt sich so Traditionsbewusstsein und Swissness verkaufen. Dabei kann das Medium so viel mehr.
Feinste Landschaften, grosse Tiefenwirkung
Das zeigt auch der Verein Scherenschnitt Schweiz. Des-sen 10. Schweizerische Scheren-schnitt-Ausstellung findet dieses Jahr im Luzerner Hans Erni Museum statt. Unter dem Titel «Typisch Schweiz!» zeigt die jurierte Schau über 70 Werke von Schweizer Scherenschneiderinnen und -schneidern.
Diese beeindrucken mit ihren Spielarten. Marianne Schönenbergers «Der schönste Ort der Schweiz Toggenburg» verfügt über einen filigranen Rahmen und feinste Landschaftselemente. Ebenso Sonja Züblins Arbeit «De Öpfelbom», die in ihrer Präzision einer Druckgrafik gleicht. Auffallend an den Werken von Züblin und anderen Künstlern: Ihre Scherenschnitte weisen fotografische Qualitäten auf, zeigen das Medium mit einnehmender Tiefenwirkung.
Fahrleitungen und urbane Alpaufzüge
So erinnert Josué Salomonis breit angeleg-tes «Une Fondue en Hiver» an die Holzschnitte von Hermann Scherer und anderer Expressionisten. Welch dramatische Perspektive! Lisa Zollinger wiederum zeigt in «ÖV Biel» ein Gewirr aus Fahrleitungen, das auf poetische Weise abstrakt ist.
Zollingers Fokus auf das Profane im städtischen Raum steht schliesslich auch stellvertretend für den kreativen Umgang mit dem Ausstellungsthema, den diese Künstlerinnen und Künstler beweisen. Irene Karpiczenkos «Der urbane Alpaufzug» mit Lastwagen und Kleinwagen spricht für sich selber. Erika Hagers «Schweizer Schokolade» thematisiert Swissness, Konsumkultur und Fragen der Demokratie. Dabei ist ihre Arbeit erst noch ein spannender Hybrid aus Papierschnitt und Collage. Der Scherenschnitt – welch modernes Medium!
Typisch Schweiz!
10. Schweizerische Scherenschnitt-Ausstellung
Sa, 2.7.–So, 16.10. Hans Erni Museum Luzern