Der Kopf der jungen Frau ist heute Kunstgeschichte. Jeanne Vaderin lebte im damals noch ländlichen Issy-les-Moulineaux, das heute ein Pariser Aussenquartier ist. In Vaderins Nachbarschaft hatte der Künstler Henri Matisse sein Atelier, und sie sass ihm 1910 erstmals Modell. Er malte sie zuerst, dann modellierte er Jeanne fünf Mal. Zu Beginn naturgetreuer, später zusehends abstrakter: «Ich will keine möglichst grosse Ähnlichkeit, sondern die wichtigen charakteristischen Züge eines Menschen herausarbeiten», sagte Matisse über seine skulpturalen Arbeiten. Mehr als die Hälfte seiner Plastiken schuf er vor dem Ersten Weltkrieg und verzichtete in seinem späteren Leben phasenweise ganz auf das dreidimensionale Werken.
Seine Serien von Plastiken zeigen die gedankliche Arbeit
Das Zürcher Kunsthaus zeigt nun in der neuen Ausstellung «Matisse – Metamorphosen» unter anderem diese Büsten von Jeanne Vaderin («Jeannette» I–V). Die Schau will die gestalterische Methode eines Künstlers veranschaulichen, der sich allerdings vor allem als Maler verstand: «Ausgehend von einer naturalistisch anmutenden Gestaltung abstrahierte er seine Figuren immer stärker bis hin zu einer radikalen Stilisierung», heisst es dazu im Ausstellungstext. So fasste Matisse die markanten Momentaufnahmen in eigenständige Plastiken, wie den Kopf der Jeannette, der dem Betrachter ihre eigenwillige Persönlichkeit deutlicher vermittelt als ihre äusserliche Erscheinung. Er fertigte Serien seiner Modelle an, um die gedankliche Arbeit der Vereinfachung zu dokumentieren. Die Dreidimensionalität erlaubt dem Betrachter eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Werk, wie etwa die US-amerikanische Kunstkritikerin Mercedes Weidmer in einem Aufsatz über die Jeannette-Skulpturen schreibt: «Er erkennt sie aus verschiedenen Winkeln und sieht sie in unterschiedlichen Lichteffekten.»
Die Zürcher Ausstellung zieht Parallelen von Matisse’ skulpturalen Arbeiten zu seinem malerischen und zeichnerischen Werk, das ihn als einen der prägenden Künstler der Klassischen Moderne auszeichnet. Matisse gilt als ein Meister der Farbe, umso spannender ist es nun, dass ein weniger bekannter Aspekt seiner kreativen Kraft zu sehen ist.
Er verdingte sich als Dekorationsmaler
Henri Matisse (1869–1954) wuchs in einer Familie des aufstrebenden Bürgertums in Saint Quentin (Picardie) auf. Seine Eltern sahen für ihn eine juristische Laufbahn vor, die er jedoch abbrach. Er widmete sich an der renommierten Académie Julian in Paris der Malerei und der Bildhauerei, nachdem die École des Beaux-Arts ihm die Aufnahme verweigert hatte.
In frühen Jahren heiratete er Amélie Noellie Parayre. Das Paar zog drei Kinder auf; er versuchte, die Familie mit den Erlösen aus seiner Kunst durchzubringen – mit unterschiedlichem Erfolg. Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stürzte Matisse in eine finanzielle und kreative Krise; er musste sich als Dekorationsmaler verdingen. Seine scheinbar unkontrollierte, vor-expressionistische Kunst war der Zeit voraus. Die Kritik etikettierte ihn als Fauvisten, als einen «Wilden». Das war keineswegs als Kompliment gemeint, auch wenn der Begriff heute positiv besetzt ist.
Erst 1905 schaffte Matisse den Durchbruch mit Ausstellungen, dann sehr schnell mit der Unterstützung von Mäzenen wie der Amerikanerin Gertrude Stein. Er gewann die Anerkennung von selbstbewussten Kollegen wie Pablo Picasso, der sonst nur seine eigene Kunst zu würdigen pflegte.
Mehr als 80 dreidimensionale Arbeiten schuf Matisse, die erste bereits 1901 – «Jaguar» nach dem Vorbild des heute vergessenen Antoine-Louis Barye. Matisse war in jungen Jahren offen für alle möglichen Einflüsse.
Matisse sah Malerei und Bildhauerei als verwandt
Wie ein Schwamm saugte er die aktuellen Strömungen der Kunstszene auf und entwickelte sie nach seinen Bedürfnissen. Er stand damals auch unter dem Einfluss seines Freundes Auguste Rodin. Im Gegensatz zu diesem verstand er das skulpturale Schaffen und die Malerei aber als verwandt und verarbeitete die gleichen Motive in beiden Genres.
Ab 1908 entwickelte er sich schnell zu einer der prägenden Figuren der Pariser Kunstszene. Matisse war ein ehrgeiziger und selbstbewusster Gestalter, der in der Öffentlichkeit stets wahrgenommen werden wollte. Dennoch verlagerte er in späteren Jahren seinen Wirkungskreis weg vom Avantgarde-Mittelpunkt Paris nach Nizza, wo er wie viele andere Künstler im mediterranen Licht seine farbliche Inspiration fand.
Matisse’ Ideenlieferanten runden die Zürcher Ausstellung ab – etwa Aktfotografien sowie afrikanische oder antike Skulpturen. Sie belegen, wie er diese Impulse in sein Werk einfliessen liess. Daneben findet der Besucher dokumentarische Fotografien, wie das Bild seines expressionistischen Künstlerkollegen Hans Marsilius Purrmann. Matisse posierte für diese Aufnahme offenkundig mit einigem Stolz in der Zeit, als es ihm schlecht erging – etliche Jahre bevor Jeanne Vaderin für ihn Modell sass.
Matisse – Metamorphosen
Fr, 30.8.–So, 8.12.
Kunsthaus Zürich