Ein alter Mann versucht eine junge Frau zu bezirzen – eine romantische Liaison, möchte man meinen. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch ein zwiespältiger Eindruck. Die Finger der rechten Hand des Mannes bewegen sich unter ihrem Arm verdächtig nahe bei der Brust. Sie hat eine Geldbörse geöffnet. Will sie eine Entschädigung für die erotische Nähe? Dieser frühe Kupferstich von Albrecht Dürer (1471–1528) greift ein Sujet auf, das so alt ist wie die Menschheit. Ein alter Mann verfällt einer jungen Frau. Die Einseitigkeit der Beziehung ist offenkundig.
Die Werke stehen im Austausch miteinander
«Der Liebesantrag» oder «Das ungleiche Paar» ist Teil der neuen Ausstellung «Perfect Love – Von Liebe und Leidenschaft» im Kunstmuseum St. Gallen mit historischen wie zeitgenössischen Werken. Sie thematisiert die Liebe als Antrieb für das künstlerische Schaffen mit Werken aus der hauseigenen Sammlung. Dabei darf der Titel ironisch verstanden werden, wie der Druck von Dürer belegt. Dieser Kupferstich hat übrigens seinerzeit Gefallen gefunden. Er ist in verschiedenen Varianten erhalten. In «Zuständen», wie die Fachleute sagen, wenn der Künstler verschiedentlich an der Druckplatte arbeitete.
Die Schau in St. Gallen reflektiert die Liebe in all ihren Facetten – von der Mutter-Kind-Beziehung über die christliche Nächstenliebe bis hin zur erotisch aufgeladenen Paarbeziehung. Offenkundig ist dabei das Risiko einer solchen Ausstellung: Wie lässt sich ein Gefühl, das alle kennen, mit rund 100 Werken spiegeln, ohne der Willkür zu erliegen? Laut Kurator Samuel Reller richtet sich die Ausstellung nach sieben thematischen Aspekten, wie «Paarliebe» oder die «Göttliche Liebe». Die Werke sind somit nicht chronologisch gruppiert, sondern «dialogisch», sodass sie im Austausch miteinander stehen: «Ob galant oder begehrlich, romantisch oder erotisch, die Liebe hat in der Kunst vielfältig Ausdruck gefunden», heisst es in einem Pressetext zu dieser Schau.
Der deutsche Psychoanalytiker Erich Fromm interpretierte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Fähigkeit zu lieben als Kunst per se. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung: Gefühle, die sich nicht oder nur schwer reflektieren lassen, finden in der künstlerischen Darstellung ihre Umsetzung. Einzelne Werke illustrieren ein Themengebiet perfekt. Auffällig ist etwa eine Installation des kubanisch-amerikanischen Künstlers Félix González-Torres mit zwei Wanduhren. Die Zeiger starten simultan, schreiten aber leicht unterschiedlich voran, sodass sich zusehends ein zeitlicher Unterschied ergibt. Die Interpretation liegt auf der Hand: Was gleich daherkommt, ist keinesfalls identisch.
Analogie zur Gefühlswelt
Die Skizze «Perfect Love» des Ostschweizer Künstlers Beni Bischof illustriert den Titel der Ausstellung. Sie zeigt eine Schraube mit einem Schraubschlüssel. Die Gegenstände sind sich trotz des Zwischenraums nahe. Sie scheinen in ihrer Unterschiedlichkeit perfekt zueinanderzupassen. Sie ergeben lediglich in ihrer Dualität einen Sinn. Die Schraube könnte dem Werkzeug das paradoxe Bonmot von Ernest Hemingway zuflüstern: «Du weisst es immer noch nicht, aber du liebst mich.» Oder: Ohne mich bleibst du zwecklos.
Nicht bei allen Werken ist die Analogie zur Gefühlswelt so offenkundig. Das abstrakte Fresko «Eros I» des sakralen Rheintaler Malers Ferdinand Gehr (1896–1996) ist schwieriger zu entschlüsseln. Die zwei Farbflächen erinnern an Herzklappen mit unterschiedlichen Akzenten in der Form von Tupfern. Eine schlüssige Interpretation ergibt sich nicht sogleich; es sei denn, das Werk soll die Verschiedenartigkeit von Liebenden veranschaulichen. Beim genauen Betrachten ist in der blauen Farbfläche ein kleines Herz zu erkennen – das Herz im Herz. Zeugt es von der unterschiedlichen Intensität der Gefühle zweier Liebenden? Gehr malte das Bild vor seiner Hochzeit.
Direkter ist ein anderer Ostschweizer Künstler das Thema angegangen, der Rheintaler Lehrer Eugen Bucher. Er hat verschiedene Versionen seiner Vorstellung eines Paares angefertigt. Bei all diesen Werken in Anlehnung an die Konstruktiven seiner Zeit greifen die abstrahierten Liebenden ineinander über, als ob sie im Bild zu einer Einheit verwoben wären: «Item» ist umgangssprachlich der treffende US-amerikanische Ausdruck für die Liaison zweier Liebender – sie sind nicht mehr auseinander zu halten.
Die Liebe lässt niemanden kalt
Andere Werke verraten nichts über den Künstler, wurden sogar von mehreren Gestaltern geschaffen. In diese Kategorie gehört die um 1550 entstandene, allegorische Darstellung der «Caritas» («Nächstenliebe») mit einer liegenden Frau im Mittelpunkt. Sie stillt ein Kind, zwei andere Kinder sind anscheinend schon versorgt. Zu den Füssen der Frau sitzt ein Kobold mit einem roten Hut, ein kleiner, intriganter Wicht, der für diese Nächstenliebe in der Form des Mutterglücks wenig Gutes verheisst.
Die Ausstellung «Perfect Love» richtet sich offenkundig an ein breites Publikum. Wer einmal an der Liebe verzweifelt oder gewachsen ist, wird einen Zugang zu den Werken finden – also alle. Nicht zu sämtlichen Positionen gleichermassen, versteht sich, aber zu einzelnen dafür umso mehr.
Perfect Love – Von Liebe und Leidenschaft
Sa, 9.4.–So, 14.5.2023
Kunstmuseum St. Gallen