«Manches bleibt der Nacht verloren » – so beschrieb Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht «Zwielicht» die diffuse Bedrohung der Dunkelheit. Die Nacht ist in Kunst und Literatur seit jeher Metapher für Unheil; für einen Moment, in dem die zivilisatorische Ordnung zu zer- brechen droht.
Nun steht sie als Ausstellungsthema über einer Schau im Musée d’art et d’histoire Genf (MAH), die Werke aus der Ukraine zeigt. Dunkler als in Zeiten eines Kriegs kann die Nacht tatsächlich kaum sein. Seit letztem Februar dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine schon. Gegen 500 kulturelle Institutionen wurden seit- her beschädigt oder zerstört: Kirchen und Bibliotheken, Konzerthäuser und Museen.
Zu oft gehören auch Angriffe auf Kulturgüter und Monumente zur Kriegsstrategie – wer Bücher, Kunstwerke und Kulturorte zerbombt, hat es bewusst auf die kulturelle Identität eines Volkes abgesehen. Diesem Aspekt trägt seit 1954 die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten Rechnung. Dort heisst es etwa: «Jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört, ist eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit. »
Zerrissenheit wird sichtbar
Im Sinne der Haager Konvention bieten nun gleich zwei Schweizer Museen Kunst aus der Ukraine Asyl. Das Musée d’art et d’histoire Genf zeigt in der Ausstellung «Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen » Bilder aus der Kiewer Gemäldegalerie, dem ukrainischen Nationalmuseum. Aus demselben Haus stammen auch Arbeiten, die unter dem Titel «Born in Ukraine» im Kunstmuseum Basel zu sehen sind.
Die Kiewer Gemäldegalerie widmete sich in den letzten acht Jahren ausführlich der Erforschung von Werken des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts der eigenen Sammlung. Im Fokus stand dabei besonders die Frage einer vermeintlich homogenen russischen Kunst. Denn viele der vertretenen Künstler wurden in der Ukraine geboren, oder sie hatten jüdische, armenische oder polnische Wurzeln.
Im Zarenreich und später in der Sowjetunion aber galten sie alle zwangsläufig als russisch. Das führte bisweilen zu einer Zerrissenheit, die in ihrer Kunst auszumachen ist. Ilya Repin (1844–1930), dessen Werk in der Schau «Born in Ukraine» vertreten ist, vereinte in seiner Arbeit zwei künstlerische Blicke: Den Arbeiteralltag im Zarenreich zeigte er in ungeschönter Härte, die Ukraine wiederum malte er als bukolische Idylle.
Ein politisches Statement zur aktuellen Lage
Vor allem die Schau im Kunstmuseum Basel ist als Akt der Selbstbehauptung zu verstehen und ist somit ein deut- liches politisches Statement zur aktuellen Lage in der Ukraine. Dennoch leisten «Born in Ukraine» und «Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen» mehr, bringen sie doch einem Schweizer Publikum eine Maltradition nahe, die mit der Entwicklung der Kunst in Westeuropa mehr gemeinsam hat, als man es vielleicht erwarten würde.
Da findet sich Symbolismus, Impressionismus und Neue Sachlichkeit, experimentierfreudige Malerinnen und Maler wie Zinayida Serebryakova, Dawid Burljuk oder Arkhip Kouïndji. Kouïndji schuf in den 1880ern mehrere Gemälde, welche die Flüsse Don und Dnjepr in der Nacht zeigen. Gemälde, deren ganze Kraft aus der Spannung zwischen hell und dunkel entsteht. Die Landschaften sind kaum auszumachen, nur das Mondlicht macht das Wasser der Flüsse glitzernd sichtbar. Geheimnisvoll sind diese Nächte, aber keinesfalls bedrohlich.
Von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen
Bis So, 23.4.
Musée d’art et d’histoire MAH, Genf
Born in Ukraine
Bis So, 30.4., Kunstmuseum Basel