Ein Titel wie ein Gedicht – «Nistplätze für Berührungen». Mit dieser Installation sorgte der Zürcher Künstler Yves Netzhammer 2006 im Rietberg Museum für Aufsehen. Er zeigte 150 digitale Zeichnungen, die er auf drei stoffbezogene Körper projizierte. Die Zeichnungen waren jeweils nur sechs Sekunden zu sehen, sodass sich daraus filmartige Sequenzen ergaben.
Ein Meister der Computerkunst
Das Kunst Museum Winterthur stellt nun «Nistplätze für Berührungen» den Werken französischer Spät-Impressionisten wie Pierre Bonnard (1867–1947) oder Edouard Vuillard (1868–1940) gegenüber. Es sind Bilder aus der Sammlung des Hauses: Netzhammers «Nistplätze» gehören ebenfalls zum Winterthurer Fundus wie die Werke der Franzosen. Das Ehepaar Eberhard und Barbara Fischer hat sie dem Haus geschenkt. Eberhard Fischer war langjähriger Rietberg-Leiter.
Der 49-jährige Netzhammer wuchs in Schaffhausen auf und lebt heute in Zürich. Er machte eine Lehre als Hochbauzeichner und besuchte die Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst, wo er sich die virtuelle Sprache der visuellen Gestaltung aneignete. Der Künstler entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einem Meister der Computerkunst sowie des Zeichnerischen – Disziplinen, die er wegweisend zu verbinden mochte. Seine frühe Affinität zur Klarheit der Architektur prägt paradoxerweise das Spielerische seiner Werke: «Ausgehend von einem im Grunde zeichnerischen Ansatz entwickelt Netzhammer komplexe raumgreifende Installationen mit Bildfolgen, in denen sich der Betrachter zu verlieren droht», heisst es im Ausstellungstext.
Netzhammer arbeitet mit einer Software, die in Architekturbüros zum Einsatz kommt. Allerdings setzt er diese gemäss seiner Vorstellungswelt ein: etwa um das Verhältnis von Mensch, Tier und Natur zu illustrieren und dem Betrachter verständlich zu machen. Dabei verzichtet er auf Didaktik und scheut die Unterhaltungselemente nicht; Netzhammer ist nie langweilig. Ein typisches Beispiel dafür ist seine Gestaltung der Rolltreppen-Umgebung in einer Wiener U-BahnStation. Unter dem Titel «Gesichtsüberwachungsschnecken» versah er eine Fläche von 830 Quadratmetern mit Piktogrammen von menschlichen und tierischen Porträts. Netzhammer gehört seit seinem Auftritt an der Biennale Venedig 2007 zu den Schweizer Künstlern mit internationaler Beachtung.
Sein Schaffen besitzt eine subversive Dimension
Eine weitere monumentale Installation, die in Erinnerung bleibt, ist sein Werk «Das Kind der Säge ist das Brett», das er vor drei Jahren im Zürcher Haus Konstruktiv und zuvor an der Biennale von Kiew zeigte: Er setzte sich darin mit dem russischen Konstruktivismus auseinander – mit Wandgemälden, Skulpturen und drei Video-Installationen.
Vordergründig ist Netzhammers Kunst einer Ästhetik verpflichtet, welche die Gefühlswelt des Betrachters schont. Tatsächlich haben viele seiner Zeichnungen jedoch eine subversive Dimension, die einen unversehens ins Grübeln bringt. So können seine Strichzeichnungen plötzlich in Monster ausarten, die an eine dystopische Gegenwelt gemahnen. Zur Illustration heisst es im Ausstellungstext: «Der poetische Titel ‹Nistplätze für Berührungen› bezeichnet den Ort familiären Aufwachsens und Zusammenseins in der Tierwelt und verbindet ihn mit der intimen Geste des Berührens. In dieser Kombination von Vertrautem klingen surreale Welten an, wie sie für das Schaffen des Zürcher Medienkünstlers Yves Netzhammer charakteristisch sind.»
Nistplätze für Berührungen
Fr, 25.10.–So, 5.1.
Kunst Museum Winterthur ZH
Vier Fragen an Yves Netzhammer
«Jeder kann seine eigene Geschichte hineinlesen»
kulturtipp: Wie erklären Sie den Kontrast zwischen Ihrem Werk und den französischen Spät-Impressionisten vor 100 Jahren?
Yves Netzhammer: Ja, das ist überraschend. Aber die Ausstellung steht ja noch nicht, ich weiss nicht, wie das exakt funktionieren wird. Mein Werk steht wie eine Lichtinsel in der Mitte des Raums, und die Gemälde hängen rundum an den Wänden. Daraus sollten sich feine Berührungen ergeben, neue Leseweisen und bestimmt auch Widersprüche entstehen.
Sie beleben so ein Werk neu, das Sie vor mehr als zehn Jahren geschaffen haben.
Ja, das ist eine Herausforderung, weil ich sonst lieber mit frischen Ideen arbeite. Ich finde es jedoch spannend, mich mit dieser Installation wieder auseinanderzusetzen. Ich hätte nie gedacht, dass die noch einmal aktuell wird. Das habe ich Barbara und Eberhard Fischer zu verdanken, die auf die Idee gekommen sind und dem Kunst Museum Winterthur die Arbeit geschenkt haben. Zudem zeige ich neben den «Nistplätzen für Berührungen» noch zwei neue Werke.
Sie arbeiten mit Computer-Software. Wird diese eines Tages Ihre gedanklich-kreativen Leistungen übernehmen?
Im Computer finde ich das ideale modellhafte Gegenüber, welches mir eine stilistisch eigenständige und subjektive Form des Erzählens ermöglicht. Natürlich hat das Medium seine eigenen Kompetenzen. Doch als Zeichner gewährt es mir individuelle Bewegungsfreiheit, aber auch genügend materielle Distanz, um mittels Digitalität den imaginativen, bildnerischen Raum auszuloten und ihn thematisch zu besetzen.
Sie erzählen Geschichten. Werden diese von den Museumsbesuchern verstanden?
Es geht mir um eine bildspezifische Weise des Verstehens: Eine Installation erzählt ja nicht eine einzige Geschichte. Ich deponiere in der Arbeit sozusagen den thematischen Rahmen. Jeder und jede kann seine eigene Geschichte hineinlesen, das macht Kunst erst erlebbar.