Die Museumslager sind voll – nicht nur mit Gemälden, Grafiken und Plastiken, auch mit unzähligen Geschichten. Die schweben da sozusagen zwischen den Kunstwerken, jede eine Möglichkeit, die Arbeiten neu zu lesen – es müsste nur jemand diese Geschichten einfangen. Für die neue Ausstellung im Kunstmuseum Bern haben dies fünf deutschsprachige Autorinnen und Autoren getan.
Melinda Nadj Abonji, Dorothee Elmiger, Eva Maria Leuenberger, Friederike Kretzen und Frédéric Zwicker haben für die Schau «Anekdoten des Schicksals» Texte geschrieben, die auf Werke aus der Sammlung eingehen. Bei den ausgestellten Arbeiten handelt es sich vorwiegend um solche, die bisher kaum einem grösseren Publikum gezeigt wurden. Die Texte regen die Besucher an, sich mit Künstleridentitäten, dem Menschen als sozialem Wesen, der Bedeutung der Natur und dem Verhältnis zwischen Künstler, Muse und Betrachter zu befassen.
Anekdoten des Schicksals
Fr, 28.7.2023–So, 7.1.2024 Kunstmuseum Bern
Melinda Nadj Abonji über «Flutumfangen» von Frank Buchser, 1876
Textausschnitt: «Obwohl ihm sehr heiss wurde! Er fast aus sich herausplatzte! Aus seinem engen Kostüm. Weil eine junge Frau mit zerschlissenen Schuhen ihn anschaute, mit forderndem Blick. Als würde sie ihm etwas vorwerfen. Aber warum? Dabei lag sie so unglaublich faul und frech und farbig auf einem Felsen. Als wäre genau das ihr gutes Recht.»
Dorothee Elmiger über «Bildnis Getrud Müller im Garten» von Ferdinand Hodler, 1916
Textausschnitt: «Der Maler, der malend mit der Zeit und dem Tod umgeht, ist ganz Auge: Der Blick führt immer von ihm weg, wir bekommen ihn selten zu Gesicht. Aber als Gertrud Dübi-Müller, selbst Male - rin, im Jahr 1916 in Ferdinand Hodlers Ateliergarten Platz nimmt und für den Maler Modell sitzt, lässt sie diesen Akt, die Entstehung des Brustbilds, mit einem Fotoapparat dokumentieren. (…)
Aber die Kamera nimmt nicht nur den malenden Mann ins Bild, sie erwidert nicht nur jenen Blick, den der Künstler auf sie, die Porträtierte, wirft. Stattdessen ahmt sie das Schauen des Künstlers nach, blickt mit ihm auf die Frau, die nun zweifach erscheint, verdoppelt: Das Porträt wird ergänzt um sein Modell, eine Person. Wir können sie nun selbständig sehen, unabhängig von den Augen und den Entscheidungen des Künstlers.»