Auf Feld 4 ist der Verlauf des Spiels zum ersten Mal offen. Klettert die Spielfigur die Leiter hoch auf Feld 12, oder rutscht sie der Schlange nach zurück auf Feld 2? Das Leiterspiel, das Besucher im Zentrum der neuen Rietberg-Ausstellung «Jain sein» spielen können, ist kein gewöhnliches: Nicht das Würfelglück des Einzelnen, nein, gemeinsame Gedankengänge aller Beteiligten entscheiden über den Ausgang. Schliesslich bedeutet der indischen Religionsgruppe der Jain Gemeinschaft und Toleranz alles.
Zum ersten Mal seit 50 Jahren widmet sich das Museum Rietberg wieder ausführlich dem Jainismus. Die Religionsgemeinschaft ent- stand vor rund 2500 Jahren, also etwa zur selben Zeit wie der Buddhismus. Doch den wenigsten von uns dürfte sie ein Begriff sein. Je nach Schätzung gibt es weltweit fünf bis acht Millionen Jains; in der Schweiz sind es rund 100. Und wenn man schon einmal von Jainismus gehört hat, dann vermutlich wegen der ethischen Werte dieser Religion.
Gewaltlosigkeit, Verzicht und Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Lebensweisen gehören zu den Grundprinzipien. Auch in der Ausstellung im Museum Rietberg erhalten diese viel Raum. «Wir fanden den Fokus auf die ethischen Werte gerade in der jetzigen Zeit sehr spannend », sagt Co-Kura- -tor Johannes Beltz. «Uns war es ein Anliegen, diese mit heutigen Fragen der Nachhaltigkeit und Toleranz zu verbinden.» Wichtig sei ihnen jedoch gewesen, dies nicht auf eine überhebliche Art zu tun.
Filigran Geschnitztes und kostbare Manuskripte
Tatsächlich geht es in der Schau zunächst einmal vor allem um die Lehren, Rituale und Praktiken der Jains. Zu sehen sind rund 200 Exponate. Etwa Marmorskulpturen von Jinas, den als Wegbereitern verehrten geistigen Führern. Hinzu kommen Ritualgegenstände, filigran geschnitzte Haus- schreine, Mandalas, die zur Anbetung verwendet wurden, oder kostbare Manuskripte und die dazugehörigen, reich verzierten Handschriftenhalter.
Besonders faszinierend sind die auf Baumwolle gemalten Pilgertafeln. Auf den bunten und dichten Illustrationen ist nicht nur die Pilgerstätte, sondern auch der Pilgerweg selber dargestellt. Ein Instrument für die Gläubigen, ihre Reise immer wieder zu durchleben, eine Würdigung des Pilgerns als gemeinsames Erlebnis. Doch die Ausstellung schlägt eben immer wieder eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Jainismus und Rietberg-Besuchern.
Eine Reihe von stimmungsvollen Kurzfilmen gewährt Einblicke in Pilgerreisen, den Alltag von Asketen oder das Leben praktizierender Jains. Überdies ist die in sechs Themenbereiche aufgeteilte Schau mit Fragen gespickt, welche die Besucher anhalten, verschiedene Aspekte des eigenen Daseins zu reflektieren. Was ist das Ziel des Lebens? Was brauchen wir wirklich an Kleidung? Wie gehen wir mit unserer Endlichkeit um?
Im Herzstück der Ausstellung verdichtet sich dies zum Leiterspiel «Und Du? Das Spiel der Fragen». Das grosse Spielfeld auf dem Boden ist lose von Wänden eingefasst. Das verleiht ihm die ruhige Atmosphäre eines Klosterinnenhofs. Auf einer Leinwand erscheinen Fragen an die Spieler: «Lässt du das Licht brennen, wenn du den Raum verlässt? » Und: «Isst du Fleisch?» Schätzen die Spielerinnen und Spieler die Antworten der Gruppenmitglieder mehrheitlich richtig ein, dürfen sie die grosse Spielfigur aus Holz die nächste Leiter raufklettern lassen. Dann rückt sie plötzlich von Feld 6 auf Feld 22. Es lohnt sich eben, seine Mitmenschen zu kennen.
Jain sein – Kunst und Leben einer indischen Religion
Bis So, 30.4., Museum Rietberg Zürich