Nein, einladend und heimelig ist hier eigentlich nichts. Das Wohnzimmer, das Albert Müller (1897–1926) in seinem Ölgemälde «Interieur» verewigte, scheint zwar von warmem Lampenlicht erfüllt, doch die Stimmung wirkt geradezu erdrückend. Drei Frauen sitzen an einem runden Tisch, schweigen sich an, während sie der Raum fast umschliesst. Bild gewordene Klaustrophobie.
Schroffe Formen, verzerrte Perspektiven
Weshalb aber wirkt Müllers Gemälde von 1924 gleichzeitig beengend und faszinierend? Nun, der Basler Maler und Bildhauer vereinte in seinem Bild zahlreiche Merkmale, die sich in der kollektiven Vorstellung als typisch expressionistisch eingebrannt haben: Die Formen sind schroff, die Perspektive verzerrt, die Farben leuchten aus kantig abgetrennten Flächen, Licht und Schatten konkurrieren sich entlang scharfer Linien.
Wie einnehmend diese Kombination auch fast 100 Jahre danach noch wirkt, lässt sich nun im Kunst Museum Winterthur erfahren. Dieses führt anhand von über 120 Werken in das Schaffen von Expressionisten ein, die damals in der Schweiz lebten. Dabei eröffnen die ausgestellten Ölbilder und Plastiken, Zeichnungen und Druckgrafiken auch einen Blick auf weniger bekannte Positionen – etwa jene der Westschweizer Künstler Hans Berger und Alice Bailly oder jene der Künstlergruppe Orsa Maggiore, die im Tessin wirkte.
Wie es so oft der Fall ist, wird auch diese Stilrichtung von der Kunstgeschichte nicht als homogene Strömung betrachtet. Die Hauptleistung der Winterthurer Überblickschau dürfte es deshalb sein, die vielschichtigen Spielarten des Expressionismus zu verdeutlichen. Da ist der freie Umgang mit der Farbe, mit dem sich die Maler vom Naturalismus lossagten. Und da ist die Befragung des Seelenlebens, die viele dieser Künstler antrieb. Immer wieder stösst man in ihren Werken auf erstarrte Gesichter, welche die Gefühle der Entfremdung, Einsamkeit und Verlorenheit in den wachsenden Städten des frühen 20. Jahrhunderts widerspiegeln.
Inhaltliche Vielfalt und formelle Unterschiede
Und doch ist da auch eine inhaltliche Vielfalt. Albert Pfisters (1884–1978) «Quitten auf rotem Tuch» steht für den spielerischen Umgang, mit dem sich auch diese Avantgarde bestehenden Genres wie dem Stillleben näherte. Cuno Amiets (1868–1961) «Der gelbe Hügel» ist so unverschämt knallig, dass sich die Expressionisten-Gruppe Die Brücke um Ernst Ludwig Kirchner nur so auf Amiet stürzte. Und Otto Morachs (1887–1973) «Asphaltkocher» schliesslich übt deutlich Sozialkritik: Seine Arbeiter sind eine anonyme Gruppe gekrümmt Malochender – die Knechte des Industriezeitalters.
Da sind aber auch die formellen Unterschiede. Bei Otto Morach wie auch bei Alice Bailly zeigen sich deutlich kubistische Tendenzen. Bei Giovanni Giacometti (1868–1933) wiederum hallt noch der Impressionismus nach – der Farbauftrag ist dezenter, die Pinselstriche feiner und kleinteiliger. Auch Albert Müller, der von seinem Vorbild und Künstlerfreund Ernst Ludwig Kirchner beeinflusst war, wird sich innert weniger Jahre noch einmal weiterentwickeln. Seine dissonante und strickt getrennte Farbsetzung wird sich ändern: Farben werden wieder ineinanderfliessen, seine Gemälde werden ruhiger, heller, luftiger. Irgendwann hat man genug gegrübelt. Irgendwann weicht die Niedergeschlagenheit der Zuversicht.
Expressionismus Schweiz
Bis So, 16.1. Kunst Museum Winterthur ZH