Es gehört wohl zum Leben, dass bisweilen Schreckliches geschehen muss, damit Bedeutendes entstehen kann. Frida Kahlo (1907–1954) wird mit 18 Jahren bei einem Busunglück in Mexico City von einer Strange aufgespiesst. Über Monate ans Bett gefesselt, beginnt die junge Frau mit dem Malen. In der Digital-Ausstellung «Viva Frida Kahlo» deutet eine Farbenexplosion den Unfall an. Die grosse Katastrophe in Kahlos Leben löst sich in einem wunderbaren Funkenregen auf: Der Urknall einer bedeutenden Künstlerinnenkarriere.
Emotional in Frida Kahlos Haut schlüpfen
«Viva Frida Kahlo» ist die erste Ausstellung in der neuen Lichthalle Maag. Wo bis vor kurzem noch das Tonhalle-Orchester gastierte, können Besucher nun in Kahlos Bilderwelt eintauchen. «Immersive Erfahrung» heisst das Stichwort: Gut drei Dutzend Projektoren werfen digitale Versionen von Gemälden auf die Wände, den Boden und die Decke der Halle. Begleitet werden die Bilder von eigens komponierter Musik und einer Erzählstimme, die in der Rolle der mexikanischen Künstlerin durch deren Leben und Schaffen führt.
Roman Beranek, der mit seinem Künstlerkollektiv Projektil für den Inhalt der Schau verantwortlich ist, sieht «Viva Frida Kahlo» als eine Mischung aus Film und Ausstellung. «Wir möchten, dass die Besucher emotional in die Haut von Frida Kahlo schlüpfen und das Leben der Künstlerin in ihren Werken gespiegelt sehen.» Hinter dieser Idee steckt einiges an Aufwand. Die Nutzungsrechte der Bilder mussten sich die Macher zuerst erkämpfen. Und für die Schau setzten sich Beranek und seine Kolleginnen ein Jahr lang mit dem Œuvre und dem Leben der Künstlerin auseinander. Es sei ihnen viel daran gelegen, Kahlos Geschichte für die Zuschauer dramaturgisch spannend zu erzählen, so Beranek. Gleichzeitig hätten sie aber auch der Künstlerin gerecht werden wollen.
Treibende Musik weicht ruhigen Momenten
Diese Mischung gelingt «Viva Frida Kahlo» durchaus. Im Eingangsbereich bereiten Zitate der Künstlerin, ein Zeitstrahl ihres Lebens und Miniatur-Versionen ihrer wichtigsten Gemälde auf die Hauptschau vor. Diese dauert 45 Minuten und variiert in ihrer Intensität. Energetische Animationen wechseln sich mit gemächlicheren Bildbetrachtungen ab, treibende Musik weicht ruhigen Momenten. Es lohnt sich, während der Schau immer mal wieder in der Halle zu wandeln, zwischen den Hockern, Sitzinseln und dem Balkon zu wechseln. So lassen sich die digitalen Bilder auf den Wänden und Kuben aus unterschiedlichen Winkeln und mit wechselnden Fokussen betrachten. Denn nicht alles kommt überall gleich gut zur Geltung: Mal verzerrt ein Sims das Gesicht, das auf eine Wand projiziert wird. Mal stört die Holztäfelung, die man der Maag Halle verpasste, den erhofften Blick auf den Pinselstrich in der Bildvergrösserung. Wer diese Art der Ausstellung bisher nicht kannte, wird sich etwas daran gewöhnen müssen. Zweifelsohne aber fasziniert die Flut von Eindrücken, dieses Bad in Kahlos Farben.
Kein Boom ohne Kritiker
Das «sich in der Kunst verlieren», wie Roman Beranek es nennt, ist in den letzten Jahren äusserst beliebt geworden. Die Produktion «Van Gogh Alive», die seit zehn Jahren um die Welt tourt und 2020 in Zürich gastierte, wurde schon millionenfach angeschaut. Und seit die Protagonistin der Netflix-Serie «Emily in Paris» das Atelier Lumière besuchte, explodiert das Angebot immersiver Ausstellungen in den USA geradezu. Doch kein Boom ohne Kritiker. Van Goghs weltberühmten Sonnenblumen mit Vivaldis Welthit «Die vier Jahreszeiten» unterlegen? Kitsch! Andere begegnen den multimedialen Schaus gelassener. Charles Venable, der scheidende Direktor des Indianapolis Museum of Art, räumte gleich ein ganzes Stockwerk für eine dauerhafte Immersions-Schau. Ankäufe seien heute eh zu teuer, so Venable. Aber eine neue Klientel lasse sich mit der Immersion erreichen. Davon ist auch Roman Beranek überzeugt: «Wir machen Kunst jenen Menschen zugänglich, die sich das sonst nicht anschauen würden.»
«Viva Frida Kahlo» gelingt die Balance zwischen Massentauglichkeit und ernsthafter Kunstbetrachtung nicht schlecht. Kahlos Werk wird in den Kontext von Mexikos kultureller Aufbruchsstimmung der 1920er eingebettet – unter anderem über die Gemälde ihres Gatten Diego Rivera. Die Ausstellung nähert sich ihren Bildern aus biografischer Sicht, was durchaus Sinn macht: Kahlos Schaffen ist geprägt von ihrem Umgang mit Frauenbildern, mit dem eigenen, versehrten Körper, mit der schwierigen Ehe mit Rivera. Dennoch wird das Leiden nicht fetischisiert. Zum Schluss etwa leuchten lebensbejahend die Wassermelonen aus «Viva La Vida» von den Wänden; Kahlo vollendete das Bild 1954 nur wenige Tage vor ihrem Tod.
Mit präzisen Pinselstrichen
Dazwischen tragen Zitate und Tagebucheinträge der Malerin durch die 45 Minuten. Mal verdeutlichen sie ihr künstlerisches Selbstverständnis, mal laden sie zur Bildbetrachtung ein. So weist uns Kahlo selber auf Details in «Die zwei Fridas» und den anderen enigmatischen Selbstporträts hin. Wer in diesen Momenten den Blick auf die richtige Wand der Maag-Halle gerichtet hat, wird sehen, welche Ausdrucksstärke Kahlo ihren Augen verlieh; mit welch präzisen Pinselstrichen sie ihre überzeichneten Augenbrauen malte. Und man wird ihre berührenden Worte hören, die sie einst für all jene niederschrieb, die noch ihren Platz auf dieser Welt suchen: «Ich stelle mir die Frau vor (...), dass sie dort drüben auch an mich denkt. Also gut, ich hoffe, dass du weisst, dass es wahr ist, dass ich da bin und genauso seltsam bin wie du.»
Viva Frida Kahlo – Immersive Experience
Bis So, 2.1.
Lichthalle Maag Zürich