Beton hat es nicht einfach. Manchmal erinnert er einen an den Buben, der damals auf dem Pausenplatz immer gemobbt wurde. Das Einfamilienhaus aus Sichtbeton erhält einen Architekturpreis? Das Kaufhaus aus den 1960ern wird unter Denkmalschutz gestellt? Schon sticheln die Online-Zeitungen und Kommentarschreiber: «Betonklotz», «Bunker» und «Bausünde», «kühl», «ungemütlich» und «hässlich». Armer, gepiesackter Beton!
Dem wohl wichtigsten Werkstoff der letzten 100 Jahre widmet nun das Schweizerische Architekturmuseum in Basel eine Ausstellung. «Beton» zeigt Skizzen, Modelle und Fotos aus den Architekturarchiven von ETH Zürich, EPF Lausanne und Università della Svizzera italiana in Lugano. Die Schau beleuchtet die Geschichte und die Wandelbarkeit des Materials und fragt nach dessen Zukunft. Denn Beton zählt heute zu den grossen Klimasündern; seine Herstellung ist für acht Prozent des weltweiten CO₂-Ausstosses verantwortlich.
Auch Prince Charles mag Beton nicht
Doch er polarisiert nicht nur deswegen. Schon früh wird das Material vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Ästhetik angefeindet. Als Ludwig Mies van der Rohe 1927 zusammen mit Le Corbusier und weiteren Architekten der Moderne in Stuttgart die Weissenhof-Siedlung errichtete, toben bürgerliche Politiker und konservative Berufskollegen. Anstatt Flachdachbauten aus Beton wünschen sie sich Holzhäuser mit Giebeldächern.
Auch anderswo wettern Traditionalisten gegen den Werkstoff. Autor Ian Fleming soll die Betonbauten von Ernö Goldfinger so sehr gehasst haben, dass er einen Bond-Bösewicht nach dem ungarisch-britischen Architekten benannte. Prince Charles mag die Nachkriegsarchitektur ebenfalls nicht: Die Sichtbetonbauten hätten in London mehr Schaden angerichtet als die deutschen Bomber im Zweiten Weltkrieg, liess er verlauten.
Mit der Hochkonjunktur kommt die Bauwut
Und was haben die Schweizer gegen den Beton? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, sei eine komplexe Angelegenheit, sagt der auf Nachkriegsmoderne spezialisierte Architekturhistoriker Michael Hanak. «Zumindest ein Teil der Bevölkerung verbindet den Beton mit negativen baulichen Auswirkungen; er muss als Sündenbock herhalten für schlechte Architektur und verbaute Landschaften.» Damit verweist Hanak auf die Zeit der Hochkonjunktur. Zu Beginn der 1960er braucht die Schweiz dringend Wohnungen und Infrastruktur für eine wachsende und zusehends automobile Bevölkerung. Also entstehen in der ganzen Schweiz Satellitenstädte, breitere Strassen und Autobahnen. Beton wird omnipräsent.
Die neuen Grosssiedlungen etwa stossen mit ihren geräumigen Wohnungen und kinderfreundlichen Parkanlagen zunächst auf viel Zustimmung. Doch aus der Euphorie wird bald Wachstumskritik. 1972 schiessen ETH-Studenten und das Schweizer Fernsehen gegen die Plattenbausiedlungen, welche die Ernst Göhner AG dutzendfach in der Schweiz errichtete: Geldmacherei, kinderfeindlich, triste Beton-Gettos. 1973 verurteilt das Buch «Bauen als Umweltzerstörung» des Zürcher Architekten Rolf Keller die Bauwut der Hochkonjunktur. Keller zeigt düstere Schwarz-Weiss-Fotos von Satellitenstädten und Autobahnen; spricht von «Betonkrusten» und «Betonorgien für den Verbrennungsmotor». Im selben Jahr erscheint auch Jörg Müllers Bilderbuch «Die Veränderung der Landschaft»: Ein Häuschen im Grünen wird nach und nach von Fabriken, Hochhäusern und Strassen verdrängt. Generationen von Schülern wachsen mit diesen Zeichnungen auf. Kein Zweifel: Die Kritik am ungebremsten Bauen ist berechtigt. Doch die Bilderwelten von Keller und Müller bleiben im kollektiven Gedächtnis. Bis heute gilt Beton als zerstörerisch und unmenschlich, als anonym und hässlich.
Beton-Fans findet man im Internet
Oder gar doch nicht? Ein Blick ins Internet zeigt: Der Werkstoff hat auch Freunde. Weltweit versuchen Architekturbegeisterte, den Ruf von Sichtbetonbauten der Nachkriegszeit zu rehabilitieren. Gerade die wuchtigen und fast skulpturalen Bauten des Brutalismus (vom Französischen für Sichtbeton: béton brut) haben auf der Plattform Instagram zahlreiche Fans. Die Kampagne «#SOSBrutalismus – Rettet die Betonmonster!» setzt sich zum Beispiel für den Erhalt solcher Gebäude ein.
Zu den Enthusiasten gehört auch Karin Bürki, die das Format «Heartbrut» betreibt. Die Zürcher Autorin und Fotografin dokumentiert Schweizer Sichtbetonbauten auf einem Onlineportal. 50 davon vereinte sie letztes Jahr in der Faltkarte «Carte Brute»: das Mehrfamilienhaus Flamatt I mit seinen bunten Loggias, das organisch wirkende Goetheanum von Rudolf Steiner im solothurnischen Dornach, die skulpturale Eglise Saint-Nicolas im Walliser Hérémence. «Diese Gebäude haben mehr Wertschätzung verdient», sagt Bürki zu ihrer Arbeit. Mit ihren Fotos und Hintergrundtexten möchte sie deshalb vor allem Menschen ausserhalb der Architekturszene ansprechen, ihnen einen neuen Zugang zum Sichtbeton ermöglichen.
Sowohl für Karin Bürki als auch für den Architekturhistoriker Michael Hanak ist klar: Beton ist nicht hässlich. Doch die Menschen müssten genauer hinschauen, differenzierter beurteilen. Hanak ist überzeugt, dass sie dann zum Beispiel die Strukturen und Muster entdeckten, welche die Gussformen auf einer Fassade hinterliessen. «Das sind meist lebhafte, zuweilen poetische Oberflächen.» Und Karin Bürki sagt: «Betonarchitektur gehört zu unserem Kulturgut.» Sie vergleicht den Sichtbeton gerne auch mit der Rohheit und Schroffheit der Alpen. Und die mögen wir ja auch erst seit der Romantik so richtig.
Ausstellung
Beton
Sa, 20.11.–So, 24.4.
S AM Schweizerisches Architekturmuseum Basel
Faltkarten
Carte Brute und Carte Brute Zürich
Erhältlich für je 34 Franken auf
www.heartbrut.com