Sie ist alt, aber immer noch kokett. Ihr Gesicht ist rotwangig, die Lippen sind geschminkt, und die wässerigen Augen liegen in tiefen Höhlen. Sie posiert offensichtlich, sitzt etwas gestellt auf einem Stuhl, wobei die knochigen Arme und Hände viel Platz einnehmen. Der Bildhintergrund ist in Braun- und Orangetönen gehalten und hebt sich kaum von der Porträtierten ab, die Ölfarben scheinen ineinander zu verschwimmen.
Beim Gemälde «Die alte Schauspielerin» handelt es sich um ein Porträt von Chaïm Soutine (1893–1943). Zu sehen ist es nun im Kunstmuseum Bern, das mit «Chaïm Soutine – Gegen den Strom» eine Einzelausstellung präsentiert, die in Kooperation mit der Kunstsammlung Nordrhein Westfalen Düsseldorf und dem Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk entstanden ist.
Leihgaben aus Paris und New York
Der belarussisch-jüdische Maler verbrachte seine wichtigsten Jahre in Paris, wo er Künstler wie Marc Chagall oder Amedeo Modigliani traf. Soutine selbst war in einem jüdischen Schtetl in Weissrussland aufgewachsen, in einem bilderfeindlichen, religiösen Haushalt. Von seinem Frühwerk ist fast nichts erhalten. «Soutine hat keine biografischen Notizen hinterlassen, und schriftliche Zeugnisse sind nur wenige überliefert», sagt Kuratorin Anne-Christine Strobel, die sich dem Künstler vor allem über Aussagen von Weggefährten annäherte.
Rund 60 Werke zeigt das Kunstmuseum Bern. Sechs Gemälde stammen aus der eigenen Sammlung, die übrigen aus Leihgaben von Institutionen wie dem Centre Pompidou in Paris oder dem Museum of Modern Art in New York.
1950 präsentierte das Museum eine Soutine-Retrospektive. Bekanntheit erlangte dieser Aussenseiter, der einen individuell-expressiven Stil entwickelte, dank dem US-amerikanischen Sammler und Förderer Albert C. Barnes. Dieser hatte Soutine entdeckt und war nach Paris gekommen, um seine Sammlung aufzubauen. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, als er eine grosse Menge an Bildern des Einzelgängers kaufte.
Mausarm war Soutine vor diesem Durchbruch gewesen. In der Ateliergemeinschaft La Ruche arbeitete und lebte er auf engstem Raum mit anderen Künstlern zusammen. Nun hatte er Geld und Ansehen und kleidete sich stets in Anzügen. Unfassbar ist er trotzdem geblieben – bis heute hat Soutine nicht ganz die Aufmerksamkeit erlangt, die sein eigenwilliges und berührendes Werk verdient hätte.
Ein Underdog, der Underdogs malte
Aber Soutine ist ein sogenannter Artist’s Artist: ein Künstler, der viele Künstlerinnen und Künstler inspiriert. Ihr Spektrum ist riesig und reicht von den abstrakten Expressionisten über den Briten Francis Bacon (1909–1992) bis hin zu Gegenwartskünstlern wie dem Schweizer Thomas Hirschhorn. Soutine war ein Underdog, der Underdogs malte.
Mit heftigem Pinselstrich schuf er Porträts von Köchen, Pagen oder Chorknaben. Seine Modelle, die meist anonym blieben, fand er in der Unterschicht. «Soutine musste seine Motive vor Augen haben», sagt Strobel. Die Porträtierten hätten für ihn posieren müssen, für die Stillleben holte er sich die Gegenstände ins Haus.
So brachte er, der Rembrandt und dessen Gemälde «Der geschlachtete Ochse» verehrte, eine ganze Rinderhälfte in sein Atelier. Um die Authentizität zu garantieren, soll er zusätzlich Blut über das Fleisch gegossen haben, das dann von seinem Atelier auf die Strasse floss.
Baguette, Geige und Fisch als Stillleben
Die Farbe Rot benutzte Soutine nicht nur, um Blut darzustellen, vielmehr ist sie eine Art Leitmotiv in seinem Werk. So porträtierte er etwa einen gänzlich rot gekleideten Hotelangestellten oder eine Frau in roter Robe. Mit seinem eigenen gesellschaftlichen Aufstieg veränderten sich auch die Modelle des Künstlers. Mit «Portrait d’une dame» (um 1928) zum Beispiel hielt er eine Vertreterin der besseren Gesellschaft in Öl fest.
Soutines Stillleben sind oft ebenso eigentümlich wie seine Porträts. Eine ungewöhnliche Kombination schuf er etwa mit einem Stillleben aus einer Baguette, einer Geige und einem Fisch, gemalt in Schieflage.
Landschaften auf Kollisionskurs
Die Welt, die aus den Fugen gerät, erlebte Soutine am eigenen Leib. Er kam als jüdischer Migrant in einem Land unter deutscher Besatzung zunehmend unter Druck, musste den Judenstern tragen, tauchte unter. Mit nur 50 Jahren starb er wegen eines perforierten Magengeschwürs in einem Pariser Spital.
Die Formverzerrungen von Soutines Landschaften, die zu kollidieren scheinen, und die expressiven Porträts, die Unbehagen und Melancholie zum Ausdruck bringen, sprechen auch heute an, in einer Zeit vielfältiger Krisen. Wie aktuell Soutine für Kunstschaffende bleibt, zeigt ein im Kunstmuseum Bern präsentierter Interviewfilm eindrücklich.
In «A World in Flux», der vom Louisiana Channel zur Ausstellung produziert wurde, erfährt man, wie sieben heutige Kunstschaffende auf Soutines Werk blicken. So kommt die englische Malerin Emma Talbot zu Wort. «Niemand macht es wie er. Er folgt nicht den Regeln», fasst sie Soutines Eigenwilligkeit zusammen. Thomas Hirschhorn doppelt nach: «In jedem Pinselstrich siehst du, dass es um Malerei geht, nicht um das Motiv.»
Chaïm Soutine – Gegen den Strom
Do, 15.8.–So, 1.12.
Kunstmuseum Bern
Vernissage: Do, 15.8., 18.30