Man müsste sich ein Beispiel an jenem Häftling nehmen, der sich ein Leintuch vor die Gitterstäbe seiner Zelle hängte. Hatte er die Sicht auf den tristen Gefängnishof erst verhüllt, stellte er sich hinter dem weissen Stoff einfach die Küste seiner Heimat vor. Weite – mehr als alles andere ersehnen wir sie in diesen Monaten. Selten waren wir aber für den Blick in die Ferne so sehr auf unsere Imagination angewiesen wie in Zeiten von Lockdown und eingeschränkten Reisemöglichkeiten.
Wie eine Verheissung klingt da der Titel der neuen Ausstellung der Kunstinstitution IG Halle: «Weit». Und tatsächlich ist Kurator Guido Baumgartner eine inspirierende Schau gelungen. Zwar bereits vor einem Jahr geplant, trifft die Gruppenausstellung im Kunst(zeug)haus Rapperswil dennoch den Nerv der Zeit. Denn die acht ausgestellten Künstlerinnen und Künstler bieten neue Perspektiven. Sie fordern die Besucher aber auch heraus, die Sehnsuchtsgefühle und Versprechen zu hinterfragen, die sie mit dem Konzept Weite verbinden.
Piktogramme und Wüstenlandschaften
Mit viel Witz behandelt zum Beispiel Hans Thomann Ausbruchwünsche und Orientierungslosigkeit. Seit über einem Jahrzehnt arbeitet der St. Galler Künstler mit dem grünen Flucht-wegschild, auf dem meist eine rennende Figur, ein Pfeil und eine Tür abgebildet sind. So lässt er diese drei Icons etwa als Mobile in ständig wechselnden Richtungen zueinander baumeln. Wohin nur soll der arme Kerl vom Piktogramm denn nun fliehen? Für eine andere Installation hat Thomann mehrere der Fluchtschilder adaptiert: links ein Covid-Erreger, rechts die rennende Figur, in der Mitte ein tickender Zeiger. Wer rennt vor wem davon?
Melancholisch wird es auf den Fotos von Tom Haller. Über mehrere Jahre lichtete der Zürcher verlassene Orte in der Weite der USA ab. Unbenutzte Parkplätze, geschlossene Motels,aufgegebene Tankstellen, leere Wüstenlandschaften und rostende Industrieanlagen.
Der Untergang ganzer Wirtschaftszweige wird da ange-deutet, gar das Ende des amerikanischen Traums als Lebensgefühl. Hier ist die Weite ein Synonym für Trostlosigkeit. Dank Tom Hallers sorgfältig gewählten Bildausschnitten entfaltet sie dennoch einen ungeheuren Sog.
Mogelpackung aus dem Kopierapparat
Mit Sehnsucht und Illusion befasst sich die Bündner Fotokünstlerin Dominique Teufen. Ihre Serie «Meine Weltreise auf meiner Kopiermaschine» umfasst atemberaubende Schwarz-Weiss-Fotos von Gebirgs- und Küstenlandschaften. Eine Mogelpackung: Teufen komponierte die Bilder aus Seidenpapier, Kaffeesatz oder Plastiksäcken auf der Glasfläche ihres Fotokopierers. In der Schau sind die Fotos teils grossformatig zu sehen. Man kann Teufens Arbeiten als Kritik am Social-Media-Zeitalter lesen, in dem spektakuläre Landschaftsfotos zu einer Währung verkommen sind. Oder aber man liest ihr Werk positiver. Als Erinnerung an unsere Einbildungskraft zum Beispiel. In der Serie «Rays of Light» etwa sind weite Klippen, Sandstrände und Küsten zu sehen, die in der Ferne flimmern. Fata Morganas, allesamt. Die Künstlerin arrangierte Silberkartons so lange zwischen geparkten Autos und Grünflächen, bis die Spiegelung auf der gebogenen Oberfläche diese Landschaften entstehen liess.
Sollen wir uns von Dominique Teufen betrogen fühlen? Oder bildet sie einfach unseren inneren Drang nach Weite ab? In unserer Vorstellung lassen wir den Blick schliesslich immer schweifen. Daran kann uns niemand hindern.
Weit
Bis So, 7.2. Kunst(zeug)haus Rapperswil SG
www.ighalle.ch