Im März 1971 blickte die «Rundschau » des Schweizer Fernsehens in das Leben von Gastarbeitern. Der Beitrag ist im SRF-Archiv zu finden und bleibt einem im Gedächtnis: Spanische und italienische Bauarbeiter machen sich am frühen Morgen von den Wohnbaracken auf zu einer grossen Tunnelbaustelle.
Vorsichtig, ja fast ängstlich, blicken einige dieser Männer in die Kamera. Ist es die Überraschung über das Filmteam? Oder spiegelt sich in ihren Gesichtern mehr? James Schwarzenbachs Überfremdungsinitiative ist neun Monate zuvor an der Urne zwar abgelehnt worden. Doch am Dasein der Gastarbeiter hat das wenig geändert: Sie stossen allenthalben auf Ablehnung, leben am Rand der Gesellschaft.
Hunderttausende mit ähnlichem Schicksal
Wie sich das anfühlt, weiss auch Ayse Yavas. Die Fotografin wuchs als Kind einer Arbeiterfamilie aus der Türkei im Kanton Aargau auf. «Vor allem in meiner Kindheit habe ich deutlich gespürt, dass ich in der Schweizer Gesellschaft kaum vorkam», erinnert sie sich. Zusammen mit der Ethnologin Gaby Fierz hat sie die Ausstellung «Und dann fing das Leben an» kuratiert, die zurzeit im kHaus in Basel zu sehen ist.
Ausgehend von Yavas’ Familiengeschichte erzählt die Schau von den Lebenswelten der Arbeiterfamilien aus der Türkei seit den 1960ern bis heute. Yavas’ Vater kam Anfang der 1960er als einer der ersten Arbeiter aus der Türkei in die Schweiz, wo er zunächst in einer Giesserei angestellt war. Über die Jahre vermittelte er weiteren 70 Männern aus seiner Heimat Stellen in der Aargauer Industrie. Die Erfahrungen dieser Menschen und ihrer Nachfahren stehen im Zentrum von «Und dann fing das Leben an».
Ayse Yavas und Gaby Fierz interviewten 30 Personen aus drei Generationen. Diese Zeitzeugen sind in der Ausstellung zu hören. Zudem sind ihre Fotoporträts, Bilder aus ihren Familienalben und Ayse Yavas’ künstlerische Collagen zu sehen. Ayse Yavas sagt im Gespräch, die Ausstellung wolle sichtbar machen, was die Schweizer Gesellschaft jahrzehntelang nicht wahrgenommen hat. «Vor allem die Männer und Frauen der ersten Generation zeigten sich in den Interviews so erfreut darüber, dass ihnen überhaupt einmal jemand zuhört.»
Auch für die Fotografin war dieser Schritt in die Öffentlichkeit wichtig. «Ich habe während des Projekts plötzlich gemerkt, dass meine eigene Geschichte mit ganz vielen ähnlichen zusammenhängt. » Die Erfahrungen von Yavas und ihrer Familie sind individuell und stehen gleichzeitig für die Erfahrungen, die Hunderttausende von sogenannten Einwandererfamilien machten und bis heute machen. Ab den 1950er-Jahren boomt die Wirtschaft in der Schweiz, doch die Arbeitskräfte sind knapp. Also holt man die Arbeiter zunächst aus Italien, später auch aus Spanien und Portugal, Jugoslawien und der Türkei. Schon bald schuften sie in Restaurants und Industriebetrieben, bauen Autobahnen und Einkaufszentren.
Das Schattendasein der «Schrankkinder»
«Heizer unter dem Kessel der Konjunktur» nennt das Schweizer Fernsehen die Gastarbeiter 1961 im «Freitagsmagazin» und prangert schon damals den teilweise menschenunwürdigen Um- gang mit ihnen an: Barackenunterkünfte, schlechte oder keine Sozialleistungen, zerrissene Familien.
Das sogenannte Saisonnier-Statut dient allein den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft. Ehepaare dürfen nur gemeinsam einreisen, wenn beide einen Arbeitsvertrag vorweisen können. Der Kindernachzug ist verboten. Und selbst wer sich den Status «Jahresaufenthalter» erarbeitet hat und somit die Kinder bei sich behalten darf – wer betreut sie, wenn beide Elternteile arbeiten müssen? So wachsen unzählige Kinder getrennt von ihren Eltern in Kinderheimen oder bei Verwandten im Ausland auf. Zehntausende leben illegal bei den Eltern in der Schweiz, führen ein Schattendasein als versteckte «Schrankkinder ».
Die Aufarbeitung hat begonnen
Bis heute weist dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte viele Leerstellen auf. Ein Umstand, der sich jedoch allmählich ändert. Seit 2021 ist der Verein Tesoro aktiv, der vom Bund eine breite historische Aufarbeitung und eine offizielle Entschuldigung für die Verletzung von Menschenrechten fordert.
An der Universität Neuenburg widmet sich aktuell ein Forschungsprojekt den versteckten Saisonnier-Kindern. Und auch in Literatur, Theater und Museen ist das Thema Gastarbeiter vermehrt präsent. 2018 veröffentlichte der Schriftsteller Vincenzo Todisco mit «Das Eidechsenkind» einen viel beachteten Roman über ein «Schrankkind ».
Um ein solches dreht sich auch das Stück «Versteckt», das bald am Luzerner Theater Premiere feiert (siehe Box). Parallel zur Ausstellung «Und dann fing das Leben an» ist im Neuen Museum Biel zudem die Ausstellung «Wir, die Saisonniers … 1931– 2022» zu sehen. Diese erzählt anhand von Fotos, persönlichen Briefen und Hörstücken von den Lebensrealitäten der Gastarbeiter.
Wunsch nach Empathie und Wissen
Dass vermehrt über dieses Thema gesprochen wird, hat laut Ayse Yavas auch mit der zweiten und dritten Generation von Einwandererfamilien zu tun. Diese hätten zum Teil andere Bildungswege eingeschlagen und somit ein anderes Selbstvertrauen als ihre Eltern. «Das hat mir und anderen eine Stimme gegeben, Missstände aufzudecken.» Die Fotografin hofft, dass sie damit bei den Besuchern ihrer Ausstellung etwas auslöst: «Ich wünsche mir, dass alle Menschen am Rand der Schweizer Gesellschaft sichtbar werden. Ich wünsche mir mehr Empathie und Wissen voneinander.» Für etwas mehr Mitgefühl hat es auch in der heutigen Schweiz noch Platz. Das umstrittene Saisonnier- Statut gibt es seit 2002 zwar nicht mehr. Menschen aus dem Ausland, die für wenig Geld und wenig Wertschätzung schuften, aber noch immer.
Und dann fing das Leben an
Bis So, 12.3., kHaus Basel
Wir, die Saisonniers …
1931–2022
Bis So, 25.6., Neues Museum Biel BE
Gastarbeiter im Theater
Auch im Theater ist dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte aktuell. Das Stück «Versteckt» des Autoren-Duos Ariane von Graffenried und Martin Bieri erzählt mit der Geschichte von Lucia von den unmenschlichen Bedingungen der Schweizer Saisonarbeiter. Lucias Vater arbei- tet auf der Baustelle, ihre Mutter in der Fabrik. Und sie ist allein zu Hause. Aber das darf niemand wissen. Regisseur Max Merker bringt das Stück im Luzerner Theater zur Uraufführung.
Versteckt
Premiere: Do, 26.1., 20.00 Luzerner Theater