Ein kleines Dorf irgendwo im Mittelland, ein Samstagmorgen lange vor Corona. Familie-Metzgete. Sogar aus Süddeutschland sind Verwandte angereist. Und die Sau hat längst gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Mit aller Kraft stemmt sie sich gegen den Bauern, der sie vom Anhänger führen will. Irgendwann steht sie dann doch im kleinen, gekachelten Schlachthaus. Dann geht alles ganz schnell. Der Störmetzger setzt der Sau das Bolzenschussgerät an die Stirn, ein Knall, ihr Körper sackt zu Boden. Ringsum geht einigen der Herzschlag etwas schneller – sie sehen zum ersten Mal, wie ein Tier geschlachtet wird.
Weder provozieren noch schockieren
Haben wir heute Lust auf Fleisch, zeigen wir auf das schön drapierte Filet in der Auslage des Metzgers – oder greifen uns im Supermarkt ein Viererpack Bratwürste aus dem Regal. Die Schweizer Bevölkerung ist in den vergangenen 150 Jahren zunehmend städtischer geworden, und die Lebensmittelproduktion industrieller und internationaler. Fleisch ist Massenware. Doch unser Verzehr von Würsten, Pouletschenkeln und Steaks ist in den letzten Jahren erstmals wieder auf das Niveau von 1969 gesunken. Antibiotika und Abholzung, Massentierhaltung und unsere eigene Gesundheit – der Fleischkonsum wird heute so kritisch diskutiert wie noch nie.
All die Spannungsfelder um das Nahrungsmittel Fleisch beleuchtet jetzt die gleichnamige neue Ausstellung in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern. Diese erkundet das Thema in fünf Blöcken: «Verzichten», «Präsentieren», «Essen», «Wursten» und «Schlachten». Für die multimediale Schau arbeitete Kurator Hannes Mangold vorwiegend mit Exponaten aus den Bibliotheksbeständen: Rezeptbücher, alte Werbeplakate und Beispiele aus Literatur, Kunst und Musik. Ergänzt werden sie von mehreren Video-Interviews. «Fleisch» ist nüchtern gehalten, einzige Spielerei bildet die Fototapete mit weissen Metzgereikacheln. Für Kurator Mangold ein bewusster Entscheid: «Ich will nicht provozieren oder schockieren. Ich möchte einfach zeigen, dass man sich unter ganz verschiedenen Aspekten mit Fleisch auseinandersetzen kann.»
Mal lustig und skurril, mal abstossend
Fleisch kann weiss Gott ein emotionales Thema sein. So manches Gespräch im Familien- oder Freundeskreis kochte beim Stichwort «Vegetarismus» schon hoch. Und die Frage, ob eine vegane Wurst überhaupt Wurst genannt werden darf, sorgt gerade europaweit für hitzige Politdebatten. Fleisch ist bisweilen auch eine Frage der Identität.
Die Ausstellung aber spielt Liebhaber nicht gegen Vegetarier oder Veganer aus. Die Schau beginnt zwar gleich unter dem Stichwort «Verzicht». Doch frühe Hiltl-Plakate und Rezepte vom Müesli-Erfinder Max Bircher schlagen hier lediglich eine Brücke zwischen der Vegetarismus-Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts und heute. Die Nachhaltigkeitsexpertin und der Fleischersatz-Produzent, die hier in Video-Interviews zu Wort kommen, treten zudem alles andere als dogmatisch auf.
Generell lässt diese Ausstellung den Besuchern viel Raum, sich mit der eigenen Einstellung zu befassen und Entdeckungen zu machen. Zu den Letzteren gehört etwa, dass Fleisch durchaus mal lustig und skurril, mal abstossend sein kann. Gerade bei Künstlerinnen und Literaten gehe es neben dem Reiz immer auch um den Ekel des Fleisches, sagt Kurator Hannes Mangold. Tatsächlich: Beni Bischofs Promi-Gesichter mit Wurst-Nasen sind so ulkig wie verstörend. Friedrich Dürrenmatts frühe, kannibalische Erzählung «Die Wurst» sowie sein Gemälde «Der Weltmetzger» wirken abstossend. Skurril erscheint hingegen Daniel Peters Mortadella-Pille auf dem Ausstellungsplakat. Ein Verweis auf eine vom Tier losgelöste Zukunft des Fleischkonsums: 2013 landete erstmals ein Rindfleisch-Burger aus dem Labor auf einem Teller.
Vom Berufsstolz der Metzger
Am spannendsten ist die Schau aber beim Themenkomplex der Produktion. Wer aufmerksam durch die Ausstellung geht, wird diesbezüglich immer wieder auf neue Wechselwirkungen und Widersprüche stossen, auf gesellschaftliche Dimensionen und Emotionen. Eine Druckgrafik von Zunftmitgliedern, Fotos und Handbücher zeugen vom Berufsstolz der Metzger. Mit dem Protest-Plakat von 1943 muss dieser angesichts einer geplanten Grossschlachterei bereits verteidigt werden. In Beat Sterchis Roman «Blösch» von 1983 verblasst er schliesslich gänzlich, denn die Arbeitsbedingungen im Schlachthof sind schlecht. Und doch funkelt dieser Berufsstolz wieder auf: wenn Metzgermeister Lüthi in «Schlachthof Nord» der Band Kummerbuben den drohenden Abriss seines Arbeitsplatzes bedauert. Oder wenn Gieri Antoni Caviezel aus dem bündnerischen Vrin im Interview von seiner kleinen Metzgerei berichtet. Von den Tieren, die nur aus der Region stammten und nicht leiden müssten. Und während er erzählt, hängen hinter ihm Würste, für welche die Kunden längst von ausserhalb des Tals anreisen.
Im kleinen Dorf irgendwo im Mittelland, an diesem Samstag lange vor Corona, ist es Abend geworden. In der Dorfbeiz sitzen sie nun, all jene, die bei der Familie-Metzgete mitgeholfen haben. Sie sind müde von diesem Tag im Schlachthaus. Und ihre Kleider riechen nach dem Fett, das sie durch den Fleischwolf gedreht und für die Würste eingekocht haben. Und doch bieten sie mit, wenn die guten, vakuumverpackten Stücke der Sau versteigert werden. Und greifen zu, wenn die Blut- und Leberwürste auf die Teller kommen. Sie wissen ja, wer diese Würste gemacht hat. Und von welchem Tier das Fleisch stammt.
Fleisch – Eine Ausstellung zum Innenleben
Bis Mi, 30.6. Schweizerische Nationalbibliothek Bern
Ein Teil der Ausstellung ist auch online zugänglich: www.nationalbibliothek.ch