«Z 115» steht in schwarzen Druckbuchstaben über dem gut hüfthohen Regalfach. So trocken Inventarnummern doch sind, so magisch ist ihre Wirkung: Das Gemälde, das Ramona Brückner nun aus dem Fach «Z 115» hervorzieht, wirkt besonders faszinierend. Mehrere in Mäntel gehüllte Figuren stehen an einem Aussichtspunkt hoch über einem Gewässer. In der Ferne ragen grob gemalte Klippen in die Höhe. Das Ölbild «Menschen am Meer» von Helen Dahm (1878–1968) ist eines von über 29 000 Werken der Kunstsammlung der Stadt Zürich. Und eines, dessen mystische Stimmung es Sammlungsleiterin Ramona Brückner besonders angetan hat.
Büsten starren in die Ferne
Brückners Arbeitsplatz ist das sogenannte Kunstdepot im Zürcher Amtshaus III, einem Sandsteinbau aus den 1910er-Jahren. Hier lagert ein Teil der städtischen Kunstsammlung, welche Brückner zusammen mit drei Kolleginnen und Kollegen betreut. Leuchtstoffröhren tauchen weisse Wände und graue Dachbalken in helles Licht. Aus den Fächern von zwei langen Regalen lugen jeweils einige Zentimeter von Bilderrahmen hervor. Vom obersten Regalboden starren Büsten in die Ferne. An den Wänden hängen Fotografien, Gemälde und Druckgrafiken. Hier und dort stehen gerahmte Kunstwerke auf Filzunterlagen aneinandergelehnt.
«Man behandelte die Kunst einfach wie Mobiliar»
Ramona Brückner tritt an die Stirnseite der beiden Regale, wo unterschiedlich hohe Holzboxen stehen. Mit der Hand wischt sie über eine der weissen Oberflächen, die ein abstraktes Muster aus Kratzern ziert. Die Kunsthistorikerin arbeitet seit 14 Jahren für die Kunstsammlung, unzählige Werke hat sie schon zur Probe auf diesen Boxen stehen sehen.
Wer für die Stadt Zürich arbeitet, darf sich für sein Büro ein Werk aus der Sammlung aussuchen. Dafür laden Brückner und ihr Team zu einem Beratungstermin ein. Oft kämen die Mitarbeiter mit fixen Vorstellungen ins Kunstdepot, erzählt sie. Es gehe dann darum, ihnen Kunst zu vermitteln, an der sie Freude hätten, die aber auch zum Arbeitsplatz passe. «Wir versuchen, den Menschen Werke über deren Geschichte und über Anekdoten zur Künstlerin näherzubringen.» Das Platzieren der Werke ist nicht nur einfach eine nette Geste der Stadt gegenüber ihren Mitarbeitern.
Die Sammlungsleiterin sieht die Sichtbarmachung als wichtigen Teil der Kunstförderung. «Diese Künstlerinnen und Künstler sollen im Le bens- und Arbeitsraum der Stadt gesehen und entdeckt werden.» Das Gros der städtischen Kunst- sammlungen entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders um die Zeit der beiden Weltkriege stand oft die Unterstützung von Künstlern während Krisenzeiten im Fokus. Heute dienen die Sammlungen nicht nur der Kunstförderung, sie dokumentieren auch die Vielfalt des lokalen Schaffens. Dabei entscheiden meist unabhängige Kunstkommissionen über die Ankäufe.
Die Jahresbudgets variieren je nach Stadt, von einigen 1000 bis zu 200'000 Franken im Fall von Zürich. Nicht immer stand es gut um den Ruf dieser Sammlungen. Ungenügende Buchführung hatte mancherorts Verluste zur Folge. Laut Brückner hatte das auch viel mit dem Zeitgeist zu tun: Die konservatorische Betreuung wurde manchmal zu wenig ernst genommen. «Man behandelte die Kunst einfach wie Mobiliar: ein Schrank für dieses Büro, ein Bild für dieses Sitzungszimmer.»
«Alte Kunst mit einer modernen Frisur»
Heute werden die meisten Sammlungen professionell betreut. Die Stadt Zürich etwa überprüfte 2009 ausführlich die Werkstandorte und Lager. Seither gibt es Leihscheine und regelmässige Kontrollen. Vermehrt begannen die Städte auch, ihre Kunst der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – oft auf Druck von Bevölkerung und Politik.
Als erste Schweizer Stadt stellte 2006 Biel seine Sammlung online, unlängst zog Thun nach. Winterthur nutzte 2015 den Bezug des Verwaltungsgebäudes «Superblock», um 80 seiner Werke in öffentlichen und halb öffentlichen Räumen zu platzieren. Aarau betreibt nach dem Vorbild der Luzerner Gemeinde Meggen eine Artothek. Diese ermöglicht es Privatpersonen, Kunstwerke aus der städtischen Sammlung befristet auszuleihen. Zürich machte Anfang No- vember die ersten rund 3000 Werke online zugänglich.
Überdies zeigt die Stadt ihre Neuankäufe jeweils alle vier Jahre im Helmhaus. Aktuell sind dort Kunstwerke zu sehen, die zwischen 2008 und 2021 in die Sammlung aufgenommen wurden. Begleitet wird die Schau von einem neuen Buch über die Ankäufe der letzten zehn Jahre. Der wunderbare Bildband zeigt unter anderem auch ein paar Beispiele von Kunstwerken, die in Büros oder Lehrerzimmern platziert werden konnten.
Eines dieser Kunstwerke, Anne-Laure Franchettes Fadenbild «To tell you the truth …», ist bereits wieder ins Kunstdepot zurückgekehrt und hängt im hinteren Teil des Dachstocks. Die Sammlung steht nie still. «Rund 12'000 Kunstwerke sind platziert – da bewegt sich jeden Tag etwas», sagt Ramona Brückner, während sie an Franchettes Werk vorbeigeht. So oder so wird ihr und ihrem Team die Arbeit nicht so bald ausgehen. Noch immer müssen Teile der Sammlung erst einmal aufgearbeitet werden.
Und dann ist da die Pflege der Werke. Aus dem zweiten der beiden langen Regale zieht Brückner jetzt ein kleines Gemälde, das eine Winterlandschaft zeigt. Das Bild wurde unlängst restauriert und erhielt einen modernen Schattenfugenrahmen aus Eiche. «Alte Kunst mit einer modernen Frisur », sagt die Kunsthistorikerin und lacht. Dann schiebt sie das Bild zurück in sein Fach. «Z 197». Noch so eine magische Nummer.
Ausstellung
Kunst für diese Stadt – Kunstankäufe der Stadt Zürich 2018–2021
Bis So, 22.1., Helmhaus Zürich
Führungen durchs Kunstdepot
Fr, 6.1., 17.00
Di, 10.1., 12.00
Fr, 20.1., 17.00
Amtshaus III Zürich
Anmeldung:
kunstsammlung@zuerich.ch
Buch
Barbara Basting / Ramona Brückner Kunst für Zürich – Kunstankäufe der Stadt 2011–2021
192 S. (Scheidegger & Spiess 2022)