Holt Banksy Schablone und Spraydose hervor, steht das in den Zeitungen. Erst recht, wenn der britische Street-Art-Künstler in der kriegsgeplagten Ukraine am Werk war. Letzten Herbst hinterliess er dort mehrere seiner sogenannten Stencils. Auf ein ausgebranntes Haus sprayte er eine Frau, die mit Feuerlöscher, Gasmaske, Morgenmantel und Lockenwicklern stille Entschlossenheit ausstrahlt. Anderswo liess er einen Buben einen Judoka bezwingen, der Wladimir Putin gleicht. Diese Arbeiten sind gewohnt einnehmend – kein Wunder, ist Banksy längst weltberühmt.
Banksys Bildsprache erschliesst sich sofort
Das Werk des anonymen Künstlers aus Bristol lässt sich nun auch in Zürich erleben. In der Halle 622 gastiert «The Mystery of Banksy – A Genius Mind», eine Art Retrospektive mit rund 150 Reproduktionen seiner bekanntesten Schablonengraffiti, Skulpturen und Installationen: der Blumenwerfer, das Mädchen mit dem roten Herzballon, eine Interpretation von Monets «Die japanische Brücke» mit vermülltem Seerosenteich, Überwachungskameras als Jagdtrophäen.
Seit bald 25 Jahren fasziniert Banksy mit Arbeiten, die stets feinen Witz und bissige Satire, sanfte Poesie und nüchternen Scharfsinn vereinen. Polizeigewalt, Krieg und Überwachungsstaat, Konsumkultur, Pop- oder Kunstikonen: Egal, wen oder was der Künstler anprangert, veräppelt oder würdigt, seine Werke sind ungeheuer pointiert. «Banksy-Effekt» nannten andere Künstler seine rasch aufzufassende Bildsprache schon – wohl nicht ganz ohne Neid.
Frauenfeld soll im Zeichen von Graffiti stehen
Ein wesentlicher Teil der Wirkung von Street-Art beruht auf dem Zusammenspiel von Werk und Umgebung. Dass eine Ausstellung wie «The Mystery of Banksy» dies nie ganz wird reproduzieren können, kreideten Kritiker der Schau in der Vergangenheit an. Andere monierten, dass diese und andere Banksy-Wanderausstellungen Profit aus Kunst schlagen, die eigentlich für die Allgemeinheit auf der Strasse gedacht war.
Die Tatsache, dass es solchen Blockbuster-Schauen selten an Publikum mangelt, verdeutlicht jedoch vor allem: Street-Art begeistert die Menschen. Die Stadt Frauenfeld etwa wird diesen Sommer ganz den Graffiti und ihren verwandten Kunstformen gehören. Anfang Juni findet zum ersten Mal das Street Art Festival Frauenfeld statt. 60 Künstlerinnen und Künstler aus der Schweiz und dem Ausland werden Stencils und Murals malen, Stickers kleben oder Strick-Graffiti anbringen (siehe Glossar).
Hinzu kommen Workshops und ein Wettbewerb, bei dem die Bewohner eines Altersheims über die Gestaltung einer Wand ihrer Residenz entscheiden. Kuratiert wird das Festival von ELF und Taina, zwei etablierten Schweizer Street-Art- Künstlerinnen.
Street-Art ist nur zum Teil salonfähig geworden
Ihr Ziel sei es zunächst einmal, dem Publikum die Vielfalt und Schönheit der Street-Art näherzubringen, wie sie im Gespräch sagen. Gleichzeitig spiele jedoch auch der Fördergedanke eine grosse Rolle. «Wir möchten vor allem auch jungen Künstlerinnen und Künstlern ermöglichen, einmal eine grosse Wand bemalen zu können, sich einem breiten Publikum zu zeigen», sagt Taina.
Höhlenmalereien, humorvolle Sprüche in Pompeji, Namenskürzel im Wien des 19. Jahrhunderts – seit jeher bemalen die Menschen Wände. Doch die heutige Street-Art-Kultur entwickelt sich vor allem in den vergangenen 60 Jahren. Im Philadelphia der 1960er tauchen im grossen Stil Kürzel, sogenannte Tags auf. Im New York der 1970er werden Writings an Wänden und U-Bahn-Waggons für Jugendliche aus maroden Quartieren zum Akt der Selbstermächtigung: Ihr mögt unser Viertel aufgegeben haben, wir leben aber noch immer hier!
Die Fotoreporterin Martha Cooper dokumentierte diese Szene im Buch «Subway Art». Es wurde zu einer Art Graffiti-Bibel, die ab den frühen 1980ern wesentlich zu einem weltweiten Graffiti-Boom beitrug. Heute vereint der Begriff Street-Art eine Vielzahl von Stilen, Techniken, Entwicklungen und Spannungen. Hier werden Drucke von Banksy für Millionenbeträge gehandelt, geben Hausbesitzer grosse Murals in Auftrag, stellen Künstlerinnen längst auch in Galerien aus. Dort bringen Künstler ihre Graffiti illegal an Hauswänden und Zügen an, fordern auf, über Macht- und Besitzverhältnisse im öffentlichen Raum nachzudenken. Noch immer gelten diese Arbeiten meist als Ärgernis.
Neue Ausstrahlung für ganze Gebiete
Für ELF und Taina hat die Street-Art in all ihren Facetten eine Berechtigung. «Ein illegal angebrachtes Graffito im öffentlichen Raum mit einer politischen Aussage ist allen Menschen zugänglich », so ELF. Gleichzeitig verliere aber Street-Art ihre Glaubwürdigkeit auch in der Galerie nicht. Denn dort erreiche sie vielleicht ein Publikum, das sich sonst nie damit auseinandersetzen würde.
«Unser Wunsch ist es, Vorurteile gegenüber Street-Art abzubauen», fügt Taina an. Die beiden Kuratorinnen sehen die grosse Kraft dieser Kunstform im Selbstbewusstsein, das sie einem Ort und dessen Bewohnern verleihen kann.
Dass sie damit recht haben, bezeugen auch Orte, denen die Street-Art in den letzten Jahren eine neue Aura verliehen hat: das bündnerische Danis mit seinem Autra Art Festival, Basel mit seiner reichen Graffiti-Kultur oder Chur, dessen Street Art Festival 2024 wieder stattfindet. Der Churer Mühleturm mit dem grossen Mural von Graffiti-Künstler Bane ist heute schon von weitem zu sehen. Ein Leuchtturm einer Schweiz, die bunter und bunter wird, Graffiti um Graffiti.
The Mystery of Banksy – A Genius Mind
Fr, 24.2.–Mi, 31.5.
Halle 622 Zürich
Street Art Festival Frauenfeld
Fr, 2.6.–So, 4.6.
www.streetart-festival-frauenfeld.ch