Zwei Echsen züngeln verliebt. Augäpfel starren in die Welt, während eine Hängematte ruhig an deren Sehnerven baumelt. Aus einer Brücke ergiesst sich ein Wasserfall in eine tropische Insellandschaft. Und ein Krabbeltier reckt eine Digital-Armbanduhr als Kopf in die Höhe.Gar Wunderliches und Vergnügliches entsteht, wenn man sich einmal dem Zufall hingibt. Dafür braucht es nicht viel: ein Blatt Papier, einen Stift und zwei oder mehr Spieler. Zeichnen, falten, weiterreichen. Zeichnen, falten, weiterreichen. Cadavre Exquis (auf Deutsch: vorzüglicher oder köstlicher Leichnam) wird das fertige Produkt auch genannt. Eine Kollektiv-Col-lage, die beim Auffalten verlässlich für einen Moment der kribbelnden Überraschung sorgt. Hans Ulrich Obrist, Schweizer Kurator und künstlerischer Leiter der Serpentine Gallery in London, hat dieses Spiel in den letzten Jahren immer wieder mit Künstlern, Architekten und Schriftstellerinnen gespielt.
Zuverlässige Quelle von Gelächter
Pipilotti Rist, Gerhard Richter oder Friederike Mayröcker – wunderbar liest sich die Liste von Kunstschaffenden, die sich zu einem Cadavre Exquis überreden liessen. Über 200 Zeichnungen entstanden so, und die zeigt Hans Ulrich Obrist nun in der Ausstellung «Zusammen zeichnen» im Krienser Museum im Bellpark und in einem dazugehörigen Buch.
Angespornt durch ein Gespräch mit dem italienischen Schriftsteller und Philosophen Umberto Eco, begann Obrist vor einigen Jahren zunächst, handschriftliche Notizen von Künstlerinnen und Künstlern zu sammeln. Als Plädoyer für die Handschrift in digitalen Zeiten veröffentlichte Obrist diese Miniaturen auf Instagram. Ein Bekannter habe ihn daraufhin auf die Idee mit den Cadavres Exquis gebracht, erzählt Obrist am Telefon aus London. «Wie es der Zufall wollte, habe ich wenige Tage später den griechischen Surrealisten-Dichter Nanos Valaoritis getroffen, der mir eine Art Masterclass zu den Cadavres Exquis gab.»
Valaoritis gehörte in den 1950ern den Pariser Surrealisten an. Die Gruppierung um den Schriftsteller André Breton hatte den Cadavre Exquis bereits in den 1920ern als Werkzeug für sich entdeckt. Zusammen mit Arbeitsmethoden wie dem Traum-protokoll oder der automatischen Niederschrift sollte ihnen diese Kollektiv-Collage zu einer intuitiven und von Konventionen befreiten Text- und Bildproduktion verhelfen. Einem Satz aus einer dieser frühen Text-Collagen verdankt das Spiel denn auch seinen Namen: «Der köstliche Leichnam wird neuen Wein trinken.» Die Surrealisten schienen der amüsanten Seite des Spiels generell nicht abgeneigt gewesen zu sein. André Breton selber lobte die «schockartige Überraschung» als zuverlässige Quelle von Gelächter.
«Das Spiel funktioniert immer»
Auch für Hans Ulrich Obrist ist der Moment, in dem man die Zeichnung vor den Beteiligten enthüllt, immer ein magischer. «Was mich an diesem Spiel fasziniert: Es funktioniert immer, ist nie uninteressant. Und das hat etwas Mysteriöses.» Betrachtet man die Sammlung von Cadavres Exquis, die über die Jahre auf Initiative des Kurators entstanden, kann man sich der Faszination des Spiels nicht erwehren. Erstaunlich oft werden die Striche und Linien von zwei oder drei Individuen zu einem wunderbar grotesken Ganzen.
Nichts darf forciert werden
Hans Ulrich Obrist berichtet gar von Momenten, in denen man fast eine telepathische Verbindung zwischen den Zeichnenden spürte. Die französische Malerin Annette Messager und ihr mittlerweile verstorbener Mann Christian Boltanski etwa schufen einen Cadavre Exquis, der wirkt, als sei er von einer Person gezeichnet.
Der Cadavre Exquis mag ein Spiel sein. Eine Spielerei ist es für Obrist dennoch nicht. Denn schon immer war dem Kurator der Dialog in seiner Arbeit wichtig. All seine Ausstellungs- und Buchprojekte entwickeln sich stets aus Gesprächen. Seit Jahren führt er eine Interview-Reihe mit Kulturschaffenden. Und zu seiner täglichen Routine gehört das «Cyber-Introducing», wie er es nennt: Obrist führt per E-Mail Menschen aus seinem Bekanntenkreis zusammen, die sich bis anhin noch nicht persönlich kannten. Sein Hauptanliegen sei es stets gewesen, nicht nur zwischen Kunstwerken, sondern auch zwischen Menschen eine Verbindung herzustellen, sagt er. Dennoch überlege er sich immer genau, ob es angebracht sei, bei einem Nachtessen oder beim Ausstellungsaufbau eine Runde Cadavre Exquis vorzuschlagen. «Man kann dieses Spiel nicht forcieren, die Situation muss stimmen.» Stimme sie jedoch, so Obrist, entstehe oft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.
In den letzten gut zwei Jahren Corona-Pandemie seien denn auch nur gerade vier oder fünf neue Cadavres Exquis entstanden. Das Spiel sei nun einmal eine analoge Sache, sagt Hans Ulrich Obrist. Das könne man nicht über Video-Konferenz spielen. Umso mehr freut sich der Kurator deshalb auf die Ausstellung im Museum im Bellpark. «Es geht darum, dass wir auch darüber nachdenken, wie wichtig es ist, physisch zusammen in einem Raum sein zu können.» Also: Falten, zeichnen, weiterreichen. Falten, zeichnen, weiterreichen. Gemeinsam holt man sich die Magie ins Leben.
Ausstellung
Zusammen zeichnen – 201 Cadavres Exquis
Sa, 14.5.–So, 7.8. Museum im Bellpark Kriens LU
Buch
Zusammen zeichnen
Hg. Hans Ulrich Obrist, Hilar Stadler, David Glanzmann
224 Seiten
(Edition Moderne 2022)