Ein Schatten an der Wand – das ist alles, was in einem Haus im pakistanischen Miranshah von einem Menschen übrig blieb. Denn da, wo keine Bombensplitter im Verputz stecken, stand jemand. Die Mitglieder von Forensic Architecture haben die Splitter gezählt, die Leerstelle rot umrandet – Evidenz für einen US-Drohnenangriff auf Zivilisten.
Die Forschungsgruppe klärt Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, indem sie etwa Schäden an Häusern dokumentiert. Haben sie einen Tathergang ermittelt, stellen sie diesen grafisch dar. Im Fall von Miranshah wurde die Flugbahn jedes Splitters visualisiert: Das dichte Geflecht aus Linien führt dem Betrachter den unausweichlichen Tod vor Augen. Gleichzeitig aber fasziniert die Grafik, erinnert sie doch an die raumfüllenden Wollskulpturen japanischer Fadenkünstlerinnen.
Ist es Kunst, was Forensic Architecture machen? Die Frage treibt derzeit die britische Kunstszene um, denn das Kollektiv ist dieses Jahr für den renommierten Turner Prize nominiert. Zu wissenschaftlich, zu sehr einem Ziel verpflichtet, sehen Kritiker die Gruppe. Anderer Meinung ist Kathleen Bühler, Kuratorin am Kunstmuseum Bern. Gerade die Verzahnung von Kunst und Forensik mache die Arbeit der Gruppe aus, sagt sie.
Forensic Architecture machen mehr als Kunst
Sie hat deshalb fünf Arbeiten des Kollektivs für «République Géniale» ausgewählt. Die Ausstellungs- und Performancereihe greift Ideen des französischen Künstlers Robert Fillious (1926–1987) auf. Dieser setzte sich mit der Arbeit im Kollektiv und der Ausweitung der Kunst auf andere Felder auseinander. «Forensic Architecture passen bestens in Fillious’ Gedankenwelt», sagt Bühler. «Sie überschreiten Grenzen – aus einer rein ästhetischen Untersuchung wird eine wissenschaftliche. Zudem arbeiten sie konsequent im Team.»
Kopf dieses Teams ist Eyal Weizman. Der britisch-israelische Architekt wurde 1970 in Haifa geboren und ist heute Professor am Goldsmiths College der Universität London. Schon als junger Architekt interessierte er sich für staatliche Machtmechanismen und Menschenrechte. Weizman arbeitete für die palästinensische Autonomiebehörde und NGOs, kartografierte Siedlungen und von Israel zerstörte palästinensische Dörfer im Westjordanland.
Gewalt hinterlässt architektonische Spuren
Das Kollektiv Forensic Architecture gründete er 2010 in London. Mit 20 Architekten, Journalisten, Künstlern und Filmemachern untersucht Weizman seither Unglücke, Verbrechen und Militäraktionen, die der jeweilige Staat in seinen Augen nicht transparent genug aufklärte. Weizmans Idee: Gewalt hinterlässt architektonische Spuren. Also analysieren er und sein Team Einschlaglöcher, die Grösse von Explosionswolken, die Schallwellen von Schüssen. «Wir sind eine Art architektonisches Detektivbüro», sagte Weizman dem «Guardian».
Der Architekt bezeichnete sich auch schon als «Aufklärungsaktivist». Das passt: Das Kollektiv arbeitet ausschliesslich für unabhängige Organisationen. Als Quellen verwendet es Handyvideos aus Netzwerken wie Facebook, öffentlich zugängliche Satellitenbilder oder geleakte Polizeiberichte. Forensic Architecture ermitteln minutiös Geodaten von Fotos, rekonstruieren Tathergänge. Die Beweisführung erfolgt in Videos. Dafür ergänzen sie animierte 3D-Modelle von Gebäuden mit Zeugenvideos und Interview-Schnippseln. Der Zuschauer wähnt sich zwischen Dokumentarfilm und Videokunst.
Im Zusammenhang mit den Morden der rechtsextremen Terrorgruppe NSU zum Beispiel rekonstruierte das Kollektiv die Geschehnisse in einem Internet-Café in Kassel. Ein junger Türke wurde dort 2006 erschossen. Doch der ebenfalls anwesende Verfassungsschützer Andreas Temme will von den tödlichen Schüssen nichts mitbekommen haben. Forensic Architecture bewiesen mit ihrem animierten Tatort-Modell das Gegenteil – die Infografik als Krimi.
In Museen und in den Gerichtssälen
Das Kollektiv untersuchte auch den Brand in einer Textilfabrik und die Entführung mexikanischer Studenten. Seine Beweisvideos und die Nachbauten von Tatorten waren an der Documenta zu sehen. «Kunst wird zum Forum, in dem öffentliche Interessen verhandelt werden», sagt Kuratorin Kathleen Bühler. «Das Kollektiv visualisiert Befunde, um einen Angriff auf Menschenrechte vor Gericht kontern zu können.»
Tatsächlich wurden die Recherchen von Forensic Architecture schon am Internationalen Gerichtshof in Den Haag erfolgreich in Verhandlungen verwendet. Kürzlich scheiterte das Team allerdings in Italien beim Versuch, das beschlagnahmte Schiff einer NGO zurückzuerhalten. Aber Eyal Weizman scheint es wenig zu stören, dass sich nicht alle Richter von seinem Material überzeugen lassen. Wichtiger sei ihm, dass die Gesellschaft der Wahrheit ein Stück näher komme, sagte er einmal. Und so werden Ausstellungsräume zu Gerichtssälen.
République Géniale
Zusammen mit der Dampfzentrale zeigt das Kunstmuseum Bern rund 20 Produktionen zum Thema kollektive Kunstpraxis. Während dreier Monate sind Ausstellungen und Performances aus Kunst, Architektur und Musik zu sehen. Bei den Ausstellungen etwa lädt die Künstlergruppe Superflex aus Dänemark die Besucher ein, ihre eigenen Designerlampen zu kreieren. Highlights unter den Live-Anlässen sind der Auftritt von John Cage und jener der Rambert Dance Company, Grossbritanniens ältester zeitgenössischer Tanzgruppe.
République Géniale
Di, 7.8.–So, 11.11.
Kunstmuseum Bern