Was sich nicht alles hinter einem kleinen bunten Punkt verbergen kann. Wer sich schon einmal durch das Onlineverzeichnis der Gurlitt-Sammlung klickte, dem fielen sie vielleicht auf: grün, gelb-grün oder gelb-rot leuchten die Tupfer in den Werkbeschreibungen beim Kapitel «Pro- venienzstatus». Sie mögen klein sein, doch Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums Bern, bereiten sie grosse Freude: «Ich bin vor allem erleichtert, dass wir heute für jedes Kunstwerk einen Punkt haben.» 2014 gab es die Punkte noch nicht. Damals erhielt das Kunstmuseum Bern rund 1600 Werke, die der Münchner Kunstsammler Cornelius Gurlitt (1932–2014) dem Haus vermacht hatte. Ein verantwortungsvolles Erbe: Ein Teil der 2012 entdeckten Sammlung stand unter NS-Raubkunst- Verdacht. Neun Werke, bei denen sich dieser bestätigte, wurden seither an die Nachfahren der rechtmässigen Besitzer zurückgegeben. Auch bei allen anderen erzählt der bunte Punkt im Werkbeschrieb eine Geschichte: von Jahren der Forschungsarbeit und von einem neuen Kapitel in der Provenienzforschung. Mit der Ausstellung «Gurlitt. Eine Bilanz» bietet das Kunstmuseum Bern nun erstmals einen ausführlichen Einblick in die langjährige Aufarbeitung des Legats Gurlitt. Generell ist das Ziel der Provenienzforschung, die Herkunft von Sammlungsstücken zu klären. In einem Parcours möchte die Schau in Bern vermitteln, wie ein Museum dabei vorgeht, auf welche Herausforderungen es stösst und welche ethischen sowie rechtlichen Fragen im Umgang mit den Forschungsergebnissen auftauchen.
Verständnis für die Forschung entwickeln
Zu sehen sind zahlreiche Werke aus der Sammlung Gurlitt. Franz Marcs «Pferde in Landschaft » etwa: Grüner Punkt, eindeutig kein Hinweis auf NS-Raubkunst. Oder Max Beck- manns «Zandvoort Strandcafé». Gelb-grüner Punkt, Lücken in der Provenienz zwischen 1933 und 1945, bisher aber keine Hinweise auf NS-Raubkunst. Daneben bieten Dokumente aus Cornelius Gurlitts Nachlass einen Einblick in das Leben des Kunsthändlers, aber eben auch in die Kunstpolitik der Nationalsozialisten. Nina Zimmer wünscht sich, dass die Besucherinnen und Besucher vom spannenden Thema gepackt werden und ein Verständnis für die Provenienzforschung entwickeln. Denn trotz der grossen medialen Aufmerksamkeit hätten viele Menschen keine konkrete Vorstellung von dieser Arbeit. «Ich hoffe, dass sie sich auf diese detektivische Arbeit einlassen.»
Die Folgen der Washingtoner Erkärung
Das Forschungsfeld entwickelte sich hauptsächlich in den vergangenen 24 Jahren. 1998 unterzeichneten die Schweiz und 43 weitere Staaten die sogenannte Washingtoner Erklärung. Demnach sollen Unterzeichnerstaaten NS-Raubkunst identifizieren, Eigentümer oder Erben ausfindig machen und mit diesen eine «gerechte und faire Lösung finden». Auch die ethische Richtlinie des Internationalen Museumsrats ICOM verpflichtet seine Mitglieder, den Herkunftsnachweis ihrer Bestände zu erbringen. So richtig Fahrt nahm die Provenienzforschung vor allem in den letzten Jahren auf. Heute ist sie ein integraler Auftrag aller Museen. So sind auch ethnologische Sammlungen angehalten, koloniale Zusammenhänge ihrer Sammlungen zu klären. Das Bundesamt für Kultur unterstützte 44 Forschungsprojekte von öffentlichen und privaten Museen und Sammlungen mit 3,6 Millionen Franken. Bis 2024 hat der Bund diesbezüglich weitere Finanzhilfe gesprochen. Dabei scheint auch der Druck auf die Museen grösser geworden zu sein. Mittlerweile wird in ganz Europa öffentlich über die Aufarbeitung von Sammlungen diskutiert. Zeigt ein Haus eine zögerliche Haltung, etwa das neue Humboldt Forum in Berlin oder das Kunsthaus Zürich im Zusammenhang mit der Sammlung Bührle, erfolgen postwendend kritische Fragen. Mit Wirkung: Das Kunsthaus Zürich gab kürzlich bekannt, die bereits geleistete Aufarbeitung der Stiftung Bührle von unabhängigen Experten prüfen zu lassen. Wer seine Bestände erforscht, pflegt auch den Ruf.
Transparenz, aktives Vorgehen und Kulanz
Zweifelsohne wird in diesem Feld noch viel passieren. Gut möglich, dass sich künftig mehr Häuser das Museum Rietberg, das Museum der Kulturen Basel oder eben auch das Kunstmuseum Bern zum Vorbild nehmen und ihre Provenienzforschung über Ausstellungen transparent machen. Gut möglich, dass auch die Rückgabepolitik des Kunstmuseums Bern einen Wendepunkt darstellt. Im Dezember 2021 gab das Museum zwei Kunstwerke aus dem Legat Gurlitt trotz lückenhafter Herkunftsgeschichte auf. Transparenz, aktives Vorgehen und Kulanz – diese Stichworte sind im Zusammenhang mit dem Thema immer öfter zu hö- ren. Dies wiederum dürfte die öffentliche Meinung weiter beeinflussen. Lange war die Diskussion von einer überspitzten Angst geprägt, alle europäischen Museen könnten dereinst leer sein. Doch die Debatte habe sich verändert, sagt Direktorin Nina Zimmer: «Ich merke, dass in den letzten Jahren ein Bewusstsein dafür entstanden ist, wie positiv es ist, wenn ein Museum Provenienzforschung und Restitution proaktiv anpackt.»
Der Blick hinter die Museumskulissen
Weiterentwickeln wird sich auch die Arbeit der Provenienzforscher. Nina Zimmer etwa wünscht sich einen besseren länderübergreifenden Austausch, was die Forschungsergebnisse betrifft. Auch bei der Vermittlung will sie kreativ bleiben: «Denn das Publikum interessiert sich dafür, was sich hinter den Museumskulissen abspielt.» Schliesslich geht auch die Erforschung der Sammlung Gurlitt weiter. Noch gibt es einzelne Werke, deren Herkunft in den Jahren 1933 bis 1945 nicht lückenlos geklärt ist. Im Verzeichnis sind sie gelb-rot markiert. Noch.
Gurlitt – Eine Bilanz
Bis So, 15.1., Kunstmuseum Bern
www.kunstmuseumbern.ch