Ausstellung: Der stumme Hilfeschrei
Die Winterthurer Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» zeigt die Kohlezeichnung «Halbfigur einer klagenden Frau» – ein kleines Rätsel der Kunstgeschichte.
Inhalt
Kulturtipp 26/2017
Rolf Hürzeler
Niemand kennt ihren Namen. Eigentlich ist gar nichts bekannt über sie. Der Gesichtsausdruck der etwa 40 Jahre alten Frau verrät jedoch, dass sie Grund zur Klage hat. Dennoch spürt der Betrachter keine Resignation; sogar eine Spur von Trotz ist in ihrem Ausdruck erkennbar. Die gezeichnete Frau ist hässlich, die Spuren des Lebens stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Der Körper verrät Widerstandskraft.
Trotzdem herrscht beim Betrachter der G...
Niemand kennt ihren Namen. Eigentlich ist gar nichts bekannt über sie. Der Gesichtsausdruck der etwa 40 Jahre alten Frau verrät jedoch, dass sie Grund zur Klage hat. Dennoch spürt der Betrachter keine Resignation; sogar eine Spur von Trotz ist in ihrem Ausdruck erkennbar. Die gezeichnete Frau ist hässlich, die Spuren des Lebens stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Der Körper verrät Widerstandskraft.
Trotzdem herrscht beim Betrachter der Gedanke an die «Misericordia» vor, an die Barmherzigkeit: «Halbfigur einer klagenden Frau» heisst die Kohlezeichnung des deutschen Künstlers Matthias Grünewald, von dem ebenfalls sehr wenig bekannt ist. Gesichert scheint immerhin, dass er das Porträt zwischen den Jahren 1512 und 1515 zeichnete. Das ist die Zeit der Schlacht von Marignano und der spanischen Eroberung Lateinamerikas.
Kein idealisiertes Bild der Muttergottes
Die bundeseigene Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» zeigt nun diese Zeichnung in der neuen Auflage «Verborgene Schätze der Sammlung». Auffallend ist die realistische Darstellung der «Klagenden». Das ist kein idealisiertes Bild der Muttergottes oder Maria Magdalena, das Elend wird nicht verschwiegen, wie es eine Künstler-Generation früher getan hätte. «Sie ist in ihrem Schmerz versunken», sagt Maria Larsson von der Sammlung Oskar Reinhart. Die Kunstkritik nimmt an, dass diese Zeichnung dem Künstler als eine Figurenvorlage für sein berühmtestes Werk diente, den Isenheimer Altar in Colmar.
Man vermutet, dass Grünewald zwischen 1475 und 1480 in Würzburg zur Welt kam und 1528 in Halle an der Saale starb. Allerdings ist seine genaue Identität ungewiss. Seine Werke tragen keine Signatur, die Herkunft der «Klagenden Frau» wurde aufgrund eines Wasserzeichens im Papier eruiert. Etliche andere Werke lassen sich indes nicht zweifelsfrei Grünewald zuschreiben, zumal es kaum schriftliche Quellen gibt. «Vieles bleibt mysteriös», sagt Maria Larsson dazu.
Verborgene Schätze der Sammlung
Bis So, 18.2.
Sammlung Oskar Reinhart
«Am Römerholz» Winterthur