Im Sommer 1901 gehen Anna Bobergs Ferien auf den Lofoten zu Ende, und die schwedische Künstlerin tut das einzig Richtige: Sie lässt ihren Gatten allein abreisen. Möglichst rasch soll er ihr Pinsel, Farbe und Staffelei in den Norden schicken, damit sie die dramatische Landschaft der norwegischen Inselgruppe einfangen kann. Diese hat sie so sehr verzaubert, dass sie sie in den folgenden 30 Jahren immer wieder malen wird: die verschneiten Berge, das sanfte Sommerlicht, die glitzernde Flüchtigkeit der Polarlichter.
Anna Boberg (1864–1935) gehört zu einer Reihe von skandinavischen und kanadischen Künstlerinnen und Künstlern, die sich ab dem späten 19. Jahrhundert mit Begeisterung der Natur des Nordens zuwenden – allem voran den borealen Wäldern entlang des Polarkreises. Rund 70 Landschaftsgemälde dieser Malerinnen und Maler zeigt die Fondation Beyeler in Riehen nun in der Ausstellung «Nordlichter». Die Schau vereint Arbeiten, die zwischen den 1880er- und 1930er-Jahren entstanden und die für eine ganz eigene, moderne nordische Malerei stehen.
Gegenentwürfe zur Industrialisierung
Als künstlerische Strömung sind diese Malerinnen und Maler höchstens im weitesten Sinne zu verstehen. Ja, die europäische Avantgarde hat viele von ihnen inspiriert. Bei Anna Boberg sind die Landschaften mal grob gepinselt und leuchtend wie bei den Expressionisten, mal dezent schimmernd wie bei den Impressionisten. Auch Bobergs Landsfrau Hilma af Klint, die Finnin Helmi Biese oder der Kanadier Tom Thomson variieren ihren Pinselstrich, um die unterschiedlichen Lichtstimmungen von Küstenstrichen, Wäldern und Seen festzuhalten.
Was diese Künstlerinnen und Künstler aber viel eher vereint, ist ihre gemeinsame Haltung. Sie malen Sehnsuchtslandschaften, die mal den Folksgeist der gerade entstehenden Nationalstaaten verkörpern sollen, mal als Gegenentwürfe für eine zunehmend industrialisierte Welt herhalten müssen.
Erhabene Landschaften ohne Menschen
Kein Wunder, ist der Mensch in diesen Gemälden oft zweitrangig – wenn nicht gleich ganz abwesend. Helmi Biese und der schwedische Königssohn und Maler Prinz Eugen wählen die Vogelperspektive, der boreale Wald breitet sich als unberührte und erhabene Landschaft vor dem Betrachter aus. Im Gemälde «Ein Haus an der Küste (Fischerhütte)» des norwegischen Neuromantikers Harald Sohlberg ist ebenjenes Häuschen das einzige Zugeständnis an die Zivilisation. Ebenso könnte man in Edvard Munchs Bild «Zugrauch» den Dampf der vorbeibrausenden Lokomotive glatt übersehen: So fesseln einen Wolken und Weite.
Die Ausstellung «Nordlichter» vereint Gemälde, die bis heute faszinieren. Sie legt aber auch Widersprüche offen. Zur Zeit, als Munch und Co. ihre vermeintlich unversehrten Landschaften malten, hatte zum Beispiel die Ausbeutung der nordischen Waldgebiete längst begonnen.
Von der Klimakrise bedrohte Gegenden
Auch die Betrachter lassen sich von der oberflächlichen Schönheit rauer Küsten und unendlich weiter Wälder gerne davon ablenken, dass diese Landschaften bedroht sind. Kurator Ulf Küster stellt den historischen Bildern denn auch eine Arbeit des dänischen Multimediakünstlers Jakob Kudsk Steensen gegenüber. Die eigens für die Schau geschaffene digitale Installation «Boreal Dreams» thematisiert die Auswirkungen der Klimakrise auf die Wälder am Polarkreis. Wie immer bei Steensen wird auch diese Arbeit eine Mischung aus digitalem Wunderland und Weckruf sein: An einen geliebten Ort zurückkehren kann nur, wer diesem auch Sorge trägt.