Manchmal bekommt die Heimat Risse. Wortwörtlich. Die klaffen dann an jahrhundertealten Stallmauern, mäandrieren über Vorplätze, ziehen sich Fassaden hoch und durch gekachelte Bäder. Wie im bündnerischen Brienz, wo der Hang oberhalb schon lange zu rutschen drohte, ja, der ganze Ort gen Tal gleitet.
Im Mai wurden die Bewohner evakuiert. Als der grosse Bergrutsch dann tatsächlich kam, machte das Gestein knapp vor dem Dorf halt. Die Brienzer sind jetzt wieder zurück in ihrem Dorf. Doch ihre Heimat bleibt eine ungewisse. Mancherorts bedrohen tauende Permafrostböden oder der zunehmende Starkregen Heimaten, anderswo sind es die Versäumnisse von früher.
Für zehn Jahre evakuiert
In Mitholz im Kandertal etwa. Ein Teil der Anwohner muss 2030 für zehn Jahre ausziehen, weil der Bund das ehemalige Munitionsdepot räumt.
Was Brienz und Mitholz gemeinsam haben: Das Schicksal dieser Orte bewegt die Menschen im ganzen Land – macht vielleicht auch Angst. Was, wenn auch wir unsere Heimat verlieren?
Dabei schien Heimat bis anhin nirgends so solid zu sein wie in der von Kriegen und Krisen verschonten Schweiz. Vielleicht ist gerade dies das Problem. «Der Heimatverlust erschüttert uns umso stärker, je mehr wir davon ausgehen, dass es niemals eine Erschütterung geben wird», sagt der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid.
Er hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema Heimat auseinandergesetzt und letztes Jahr das Buch «Heimat finden» herausgegeben. Verliere man die Heimat von heute auf morgen, sei das für jeden Menschen eine fundamentale Irritation. Die entscheidende Frage sei, wie sich jemand danach wieder fangen könne.
Gerüche und Farben aus Mitholz
Ein Teil der Mitholzer hat sich für eine Ausstellung im Alpinen Museum der Schweiz dem bevorstehenden Wegzug aus der Heimat gestellt. Zusammen mit Kuratorin Barbara Keller haben sie sich mit ihrem Dorf, den Erinnerungen an die Explosionskatastrophe von 1947 und der Zukunft von Mitholz befasst.
Das Resultat des partizipativen Projekts ist die äusserst spannende Schau «Heimat – Auf Spurensuche in Mitholz». Hier ist Mitholz etwas, das uns alle angeht. «Kannst du dir vorstellen, dein Haus verlassen zu müssen?» oder «Was bedeutet für dich Heimat?» – mit solchen Fragen werden die Besucher konfrontiert.
Eigene Heimatgefühle präzis verorten
Der Ausstellungsteil «Archiv Mitholz» wiederum animiert dazu, eigene Heimatgefühle präzise zu verorten. Für dieses Archiv trugen die beteiligten Mitholzer Gerüche und Farben, Anekdoten aus dem Dorfleben und ihre ganz eigene Ortsstatistik zusammen. In Mitholz gibt es: das Saublumengelb der Wiesen, den Geruch heisser Gleise, die Anekdote über die Pausen im Schulhauswald.
Es gibt 179 Holzbeigen, 69 Wanderbänke, 27 landwirtschaftliche Fahrzeuge, 22 Hunde, 9 Wasserfälle, keine Post, keine Schule, keinen Lebensmittelladen und keine Kirche. Heimat ist eine Quersumme.
Der grosse Protest im bündnerischen Avers
Auch Wilhelm Schmid sagt, das Gefühl von Heimat lasse sich sehr oft auf eine Geborgenheit zurückführen, die sich aus den Sinneseindrücken der Kindheit speise. So sei Heimat für viele Menschen zunächst einmal der Ort oder die Region, wo sie geboren und aufgewachsen sind.
Dennoch sei Heimat immer auch mehr als ein Ort, so Schmid. «Die Vertrautheit, die wir bei gewissen Menschen fühlen, ist genauso wichtig und kann uns auch helfen, an einem neuen Ort einzuwachsen.»
Heimat kann also auch jene Stadt werden, in die uns ein neuer Job verschlägt. Oder eine Landschaft, in der wir uns gerne bewegen. Für einen Alphirten ist wohl auch jenes Hochtal, in dem er Sommer für Sommer verbringt, eine Art Heimat.
Kampf gegen Stauseeprojekte
Für zahlreiche solcher Täler gab es in den 1980ern Projekte für Stauseen. Allein im Kanton Graubünden sollten mehr als zwei Dutzend davon der Energiegewinnung zum Opfer fallen. Kaum erstaunlich also, dass der Widerstand gegen diese Projekte vielerorts von Hirten losgetreten wurde
Im bündnerischen Avers, wo das Stauseeprojekt im Val Madris 1998 begraben wurde, rollt diesen Sommer eine Ausstellung den jahrelangen Protest auf. «Gegen den Strom – Die verhinderte Flutung des Val Madris» von den Kuratorinnen Ina Boesch und Chantal Romani lässt im Ausstellungsort Bim nüwa Hus die Erinnerungen von damaligen Akteurinnen und Akteuren aufleben.
Dabei verweist die Schau auch auf die Gegenwart. Denn die Diskussion über grosse Energieprojekte in den Bergen geht weiter. Jeder Wind- und Solarpark wird in einer Landschaft gebaut, die jemandem Heimat bedeutet. Was die Zukunft für die beiden Dörfer Brienz und Mitholz bringt, wird sich zeigen.
Einige der Mitholzer haben sich schon von ihrem Dorf verabschiedet. Für die Ausstellung im Alpinen Museum Bern haben sie das Lied «Läb wohl Mitholz» eingesungen, das Kathrin Künzi, Musikerin mit Wurzeln im Dorf, geschrieben hat. In einem abgedunkelten Raum des Museums ertönt es aus 24 Lautsprechern, umhüllt die Besucherinnen und Besucher geradezu.
Das berührt. Der Liedtext liegt auf, wer will, darf mitsingen: «Läb wohl Mitholz, Du bisch ä Tiil va öös.»
Ausstellungen
Heimat – Auf Spurensuche in Mitholz
Bis So, 30.6.2024 Alpines Museum der Schweiz Bern
Gegen den Strom – Die verhinderte Flutung des Val Madris
Sa, 8.7.–Sa, 19.8. Bim nüwa Hus, Avers-Platta GR
Bücher
Ina Boesch, «Schauplatz Avers – Geschichten einer Landschaft», 160 Seiten, Hier und Jetzt 2023
Wilhelm Schmid, «Heimat finden – Vom Leben in einer ungewissen Welt», 480 Seiten, Suhrkamp 2022