Wirklich wichtige Menschen brauchen keine grossen Denkmäler. Sasha Huber, Schweizer Künstlerin mit haitianischen Wurzeln, ehrt den US-amerikanischen Autor James Baldwin mit einem Bild aus groben Zwecken, die sie 2018 in den Fensterladen eines Chalets in Leukerbad tackerte. Die rostenden Zwecken gleichen sich langsam an die Farbe des Holzes an. Das freundliche Porträt wird Teil des Dorfs, wie es Baldwin zu Lebzeiten nie sein konnte. Mit einer Mischung aus Neugier und Abneigung empfing man den schwarzen Autor zu Beginn der 1950er im Wallis. Seine Rassismuserfahrungen verarbeitete er später zum Essay «Stranger In The Village».
Den Titel dieses Textes über weisses Selbstverständnis und Machtgefälle hat sich das Aargauer Kunsthaus nun für eine neue Ausstellung über Rassismus geliehen. Die Gruppenschau vereint Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus der Schweiz und dem Ausland, die direkt von Baldwins Text inspiriert wurden oder Themen wie Zugehörigkeit und Ausgrenzung aufgreifen. Den Auftakt macht eine Filmadaption von «Stranger In The Village», die das Westschweizer Fernsehen 1962 mit James Baldwin umsetzte. Danach widmet sich jeder der Ausstellungsräume einem Themenkreis.
Scham, Selbstzweifel und ermüdender Kampf
Im Teil «Rassismus im Alltag» etwa ist «Weisse Augen, schwarze Haut» zu sehen, eine Serie von Videoporträts der Schweizer Künstlerin und Journalistin Sirah Nying. Da berichten zum Beispiel Josephine und Joel über ihre Erfahrungen als People of Color in der Schweiz. Es sind berührende, erschütternde Erzählungen über Scham und Selbstzweifel, über den ermüdenden Kampf gegen das N-Wort und über das Gewicht des Alltagsrassismus, dem man mit keinem Krafttraining beikommt.
Anderswo thematisiert Notta Caflischs Skulptur «White Gold» – in Goldbarrenform gepresste Baumwolle – die kolonialen Verstrickungen der Schweiz. Und Namsa Leuba, Tochter einer guineischen Mutter und eines Schweizer Vaters, demontiert in ihrer Fotoserie «Zulu Kids» den folkloristischen Blick vieler Westler auf den afrikanischen Kontinent. Auch das Museum als Kulturinstitution steht in dieser Ausstellung zur Debatte. So fragen die Ausstellungsmacher im Themenkreis «Was sammeln wir?» nach Provenienz und problematischen Bildinhalten. Im Bereich «Stimmen» macht das Aargauer Kunsthaus schliesslich auch die Entstehung der Ausstellung zum Thema.
So ist hier ein Video zu sehen, in dem sich die Kuratorinnen sowie die Rassismusexperten, Künstlerinnen und Inklusionsbeauftragten des Beratungsteams etwa zur Vielstimmigkeit im Museum äussern.
Eine vielschichtige und berührende Ausstellung
Die Botschaft von «Stranger In The Village» ist klar: Rassismus existiert nicht bloss in Tagesschaubeiträgen über die USA. Auch über 70 Jahre nach James Baldwins Besuch in Leukerbad muss sich die Schweizer Gesellschaft mehr denn je damit befassen. Dennoch hebt die vielschichtige und berührende Schau nicht bloss den Mahnfinger. Vielmehr regt sie die Besucher an, nach den eigenen Privilegien, überholten Denkweisen und blinden Flecken zu fragen. Denn die gibt es immer.
Sinnbildlich dafür findet man in der Ausstellung eine weitere Arbeit von Sasha Huber. Auf helles Holz hat die Künstlerin einen Eisberg getackert, von dem sowohl die Spitze als auch die viel grössere Masse im Wasser zu sehen ist. Manchmal kommt es vor, dass sich solche Kolosse plötzlich drehen. Dann wird auf einmal sichtbar, was lange unter der Oberfläche verborgen war.
Stranger In The Village –
Rassismus im Spiegel von
James Baldwin
So, 3.9.–So, 7.1.
Aargauer Kunsthaus Aarau
Literatur/Film
Scharfsinniger Gesellschaftskritiker
Als James Baldwin (1924–1987) Anfang der 50er-Jahre aus New York ins Walliser Dorf Leukerbad kommt, schlägt ihm eine Mischung aus «Staunen, Neugier, Belustigung oder Empörung» entgegen – und hochgradiger Rassismus. «Allem Anschein hatte vor mir noch nie ein Schwarzer dieses kleine Schweizer Dorf betreten», stellt Baldwin fest, der sich zum Schreiben seines ersten Romans «in die weisse Wildnis» zurückgezogen hatte.
Diese Erfahrung beschreibt er in seinem eindrücklichen Essay «Stranger In The Village», in dem er einen Bogen schlägt von der gewalttätigen Geschichte seiner afrikanischen Vorfahren bis zu seinem Schmerz in der Gegenwart: «Die Kinder, die ‹Neger!› rufen, können unmöglich ahnen, welches Echo dieser Laut in mir hervorruft», schreibt er. Der 1953 erschienene Text ist in einer limitierten Auflage im Museumsshop des Aargauer Kunsthauses wieder erhältlich, ist aber auch Teil von Baldwins packendem Band «Von einem Sohn dieses Landes». In zehn Essays beschreibt er darin, was es bedeutet, schwarz zu sein in einer von Weissen regierten Welt.
Ein Buch, das bis heute nichts an Aktualität eingebüsst hat. Im Rahmen der Ausstellung wird zudem der Dokumentarfilm «I Am Not Your Negro» in Aarau gezeigt. Darin inszeniert der haitianische Regisseur Raoul Peck den letzten, unvollendet gebliebenen Text «Remember This House», in dem James Baldwin Erinnerungen an seine drei ermordeten Bürgerrechtler-Freunde Malcolm X, Medgar Evers und Martin Luther King beschreibt. Pecks berührende Filmcollage aus historischen und gegenwärtigen Bildern zur Geschichte der Rassentrennung in den USA bis zur Bewegung «Black Lives Matter» ist auch auf Play Suisse zu sehen.
Film
I Am Not Your Negro
Regie: Raoul Peck, 91 Minuten (F 2016)
Do, 7.9., 20.30 Kino Freier Film Aarau
Stream: www.playsuisse.ch
Bücher
James Baldwin
Von einem Sohn dieses Landes
Aus dem US-amerikanischen
von Miriam Mandelkow
240 Seiten (dtv 2022)
James Baldwin
Fremder im Dorf – Ein schwarzer
New Yorker in Leukerbad
Aus dem US-amerikanischen
von Pociao
28 Seiten
(Edition Sacré 2012)