Ausstellung - Das Böse scheint allgegenwärtig
Der Maler Willi Oertig ist ein Besessener: Einer, der in einer eigenen Welt lebt, die sich nur über seine Ölbilder erschliesst. Das Kunstmuseum Thurgau zeigt nun seine abgründigen, neorealistischen Werke. Ein Atelierbesuch im tiefsten Mostindien.
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Kulturtipp 22/2012
Rolf Hürzeler
Kradolf! Kradolf? Dieses Thurgauer Strassendorf mit der Bausubstanz einer Steinwüste ist Oertig-Sitz. Die Gemeinde führt den prominenten Ostschweizer Künstler gleich auf der Website auf, gewissermassen als grössten Standortvorteil. Hier steht der Besucher also vor diesem bedrohlichen Güterschuppen, der den Betrachter erschauern lässt. Man spürt unterschwellige Gefahr: Ist schon etwas Fürchterliches geschehen oder passiert es jeden Augenbl...
Kradolf! Kradolf? Dieses Thurgauer Strassendorf mit der Bausubstanz einer Steinwüste ist Oertig-Sitz. Die Gemeinde führt den prominenten Ostschweizer Künstler gleich auf der Website auf, gewissermassen als grössten Standortvorteil. Hier steht der Besucher also vor diesem bedrohlichen Güterschuppen, der den Betrachter erschauern lässt. Man spürt unterschwellige Gefahr: Ist schon etwas Fürchterliches geschehen oder passiert es jeden Augenblick? Mit pedantischer Akribie hat Willi Oertig den nächtlichen Eindruck des unscheinbaren Gebäudes festgehalten. Fotografisch genau und dennoch verfremdet, denn das Böse scheint allgegenwärtig. Willi Oertig schaut regelmässig «Aktenzeichen XY … ungelöst». Kein Witz.
Der 65-jährige Kunstmaler Willi Oertig ist ein Besessener. Betritt man sein Atelier, gleich neben dem Kradolfer Bahnhof mit dem Güterschuppen, erwartet Oertig den Besucher mit einem Redeschwall. Nicht etwa von seiner Kunst schwärmt er, sondern vom Fussballclub GC, für den er bei der Juniorenmannschaft einmal mitspielte, als sei es gestern gewesen. Dann geht die Rede nahtlos über zu seinen «Kunden», wie er sagt. Das sind die Leute, die seine Bilder kaufen. Er betreut sie intensiv wie ein Gewerbetreibender, der immer hofft, dass ein Auftrag nicht der letzte ist. Und das muss Willi Oertig tatsächlich nicht befürchten, er gilt als einer der grossen Verkäufer in der Szene. In Zürich stellt ihn die renommierte Galerie Werner Bommer aus.
Wie wird einer zum helvetischen Edward Hopper? Einer, der die Realität in einer verklärten Trostlosigkeit zeigt, die einen fröstelt. Direkt beantwortet Willi Oertig die Frage nicht. Man hört aber im Gespräch, dass er es nicht immer einfach hatte im Leben. Er fühlte sich lange als Entwurzelter, erst jetzt in Kradolf, wo er seit Jahren mit seiner Frau lebt, ist er zuhause. «Hier habe ich alles, vor allem meine Freiheit», sagt Oertig.
Unglaubliche Energie
Freiheit ist ein Wort, das er häufig braucht. Er spricht begeistert von den nordamerikanischen Indianern, besonders der Apachenführer Geronimo hat es ihm angetan. Dieser führte im 19. Jahrhundert einen erbitterten Kampf gegen die mexikanischen und angelsächsischen Eindringlinge auf dem Kontinent. Oertig redet mit einer Bewunderung von Geronimo, als trage er selbst eine Feder auf dem Haupt.
Tut er aber nicht. Er ist ein klein gewachsener Mann, der mit einer unglaublichen Energie gesegnet ist. Man wundert sich, wie dieser Quirlige mit ruhiger Hand einen Ölpinsel führen kann, und zwar so, dass jeder Strich sitzt. Oertig arbeitet ausschliesslich in seinem Atelier. Zuerst fotografiert er die Objekte mit einer uralten Yashica T-5-Kamera, die heute bei E-Bay für weniger als 10 Franken zu haben ist. Oertig fotografiert alles – eine verlassene Tankstelle in Weinfelden, einen einsamen Steg am Lago Maggiore, eine Telefonkabine im südfranzösischen Hyères oder ein Sexkino in Zürich.
In seinem Atelier malt er nach den entwickelten Bildern («ich habe nichts digital») und hört dazu Musik – so ziemlich alles, was sich Leute dieser Generation unter mehr oder weniger neuerer Musik vorstellen von AC/DC über John Lee Hooker bis zu Bob Dylan. Die Musik scheint Oertig zu beflügeln, seine Seele auszuloten, um das Abgründige in die Malerei einfliessen zu lassen. Sollte man meinen, liegt damit aber möglicherweise ganz falsch. Denn am liebsten hört Oertig beim Malen alte Radioreportagen über die Erfolge seines geliebten Eishockeyclubs Rapperswil-Jona Lakers: «Die könnte ich ewig hören.» Offenbar animiert Fangegröle auch zur Kunst: «Am liebsten mag ich die Spiele, wo es um den Aufstieg in die Nationalliga A ging.» Das war 1994.
Überhöhter Realismus
Aufgewachsen in Zürich, begann Willi Oertig schon 1971 professionell zu malen in einer winzigen Loge im Niederdorf. Die ersten Bilder waren naiv, «weil ich es nicht besser konnte». Daraus entwickelte sich ein Naturalismus im Stil eines Adolf Dietrich, «den ich damals nicht kannte». Und jetzt also dieser überhöhte Realismus, dem das Thurgauer Kunstmuseum eine eigene Ausstellung widmet. Der Besuch wird sich lohnen.