Charlie Chaplin, der als HitlerKarikatur mit einer Weltkugel spielt und damit seinen kindischen Grössenwahn zelebriert – das ist ein Bild, das sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Der Film «Der grosse Diktator» wurde 1940 erstmals in den USA und Europa gezeigt. Er gilt als Beitrag zum Kriegseintritt der USA und wurde von der «New York Times» als der «vielleicht wichtigste Film, der je hervorgebracht wurde» bezeichnet. Letzten Herbst wurde das Meisterwerk 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass widmet ihm nun das Museum Chaplin’s World oberhalb von Vevey eine Sonderausstellung.
Fotos geben Einblicke hinter die Kulisse
Eugene Chaplin, das fünfte von acht Kindern aus der Ehe von Charlie Chaplin und dessen vierter und letzter Ehefrau Oona O’Neill, ist beim kulturtipp-Besuch vor Ort. Die Ausstellung sei zustande gekommen, weil man sehr viele bisher unveröffentlichte Fotos von Chaplins ehemaligem Regieassistenten Dan James erhalten habe. Diese bilden den Kern der Schau und geben Einblicke hinter die Kulissen. So sieht man, wie Chaplin Regieanweisungen gab und dabei wohl am liebsten selbst in jede einzelne Rolle geschlüpft wäre. Ein weiteres spezielles Exponat ist die mit verballhornten Hakenkreuzen besetzte Weste, die Chaplin in der Rolle der Figur Hynkel trug.
Chaplin in der Doppelrolle als Diktator und Coiffeur
Eugene Chaplin sah den Film «Der grosse Diktator» zum ersten Mal mit etwa acht Jahren. «Als Kind liebte ich die Action.» Erst später habe er verstanden, worum es tatsächlich ging. «Angesichts der Weltlage, des Wiederaufkommens von Populismus und Nationalismus hat der Film, besonders die Schlussszene mit dem Appell für mehr Menschlichkeit, auch heute grosses Gewicht», sagt er. Besagte Szene kann man in der Ausstellung auf Grossbildschirm sehen.
Chaplin spielte im Film eine Doppelrolle: Er stellt einerseits einen jüdischen Coiffeur dar, der durch Hynkels Terrorregime unter Zugzwang gerät, und anderseits Hynkel, den grossen Diktator. Am Ende kommt es zu einer Verwechslung, und der Coiffeur kann als Hynkel vors Volk treten und eine am Radio übertragene Rede halten. Er nutzt diese für einen legendären Appell gegen Hass und Verachtung: Es habe genügend Platz auf dieser Erde für jeden, ohne Nächstenliebe sei das Leben nicht lebenswert, und er wolle niemanden erobern, lässt er wissen. Ausserdem wendet er sich an seine Geliebte Hannah, dargestellt von Paulette Goddard, mit der Chaplin von 1936 bis 1942 verheiratet war. Chaplins Film war die erste grosse Hollywood-Produktion, die deutlich Stellung gegen die Nazis bezog.
Charlie Chaplin wurde am 16. April 1889 in London geboren, Adolf Hitler nur vier Tage später in Österreich. Chaplin wurde bereits in den 1920ern von den nationalen Kräften in Deutschland diffamiert. «Der Stürmer» schrieb 1926, Chaplin sei Jude und seine Handlungen die eines Tagediebs. Chaplin liess das Gerücht einer jüdischen Herkunft stehen, weil er glaubte, mit einer Gegendarstellung den Antisemiten in die Hände zu spielen. Seine Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft führte dazu, dass es zu Anti-Chaplin- Demonstrationen vor seinem Hotel kam, als er sich 1931 in Berlin aufhielt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Chaplin in der USA unter Beschuss. Er wurde als Kommunist denunziert, und nach einem Auslandaufenthalt wurde ihm die Rückkehr in die USA verweigert. Aus diesem Grund kaufte er 1952 das Herrenhaus in Corsier-sur-Vevey, in dem sich seit 2016 das Museum Chaplin’s World befindet. Hier lebte er bis zu seinem Tod. Im Eingang des Museums begegnet man Chaplin als Wachsfigur, dahinter hängt eine Schwarz-Weiss-Aufnahme seiner Ehefrau Oona O’Neill (1925–1991). Im ehemaligen Schlafsaal der Kinder findet die aktuelle Sonderausstellung statt.
Der Vater – «ein ernster Clown»
Eugene Chaplin, der bis heute in der Region lebt, erinnert sich an einen von der Mutter gut organisierten Alltag. War der Vater so lustig wie auf der Leinwand? «Klar, er hatte Humor, aber er war nicht permanent lustig», so der Sohn. Er sei ein «ernster Clown» gewesen. «Die Ausbildung seiner Kinder war ihm sehr wichtig, er hätte wohl gerne einen Arzt oder Anwalt in der Familie gehabt.»
Eugene Chaplin ist Tontechniker und Dokumentarfilmer geworden. Die Schauspielerei hat ihn nie gereizt. «Es braucht Talent dazu», sagt er nüchtern. «Ich wollte immer hinter der Kamera stehen.» Die Filme seines Vaters liebe er, und sie erfüllten ihn mit Stolz. Die romantische Komödie «Lichter der Grossstadt» (1931) sei der vielleicht kompletteste Film. Chaplin verliebt sich als Tramp in ein blindes Blumenmädchen und gaukelt ihr Wohlstand vor. Die Figur des etwas schusseligen Tramps hatte Chaplin angeblich erfunden, als er sich für eine Filmszene bereit machen sollte. Er fand in der Garderobe eine Hose, die ihm zu gross war, riesige Schuhe und einen Hut. Den Schnauz fügte er hinzu, weil er lustig aussah, ohne seinen Ausdruck zu verdecken.
Einen Schnauz trug Chaplin natürlich auch als Hynkel. In der Presse erschienen damals Karikaturen beider Schnauzträger. Wie eingehend Chaplin sein Opfer punkto Mimik und Gestik studierte, wird in der Ausstellung anhand von Hitler-Fotografien dokumentiert, die Chaplin als Vorlage dienten. «Chaplin war ein grosser Perfektionist», sagt Michèle Perrelet, die Führungen im Haus anbietet. Die Schlussszene mit der Rede habe er mehr als 50 Mal gedreht. Béatrice de Reyniès, Direktorin von Chaplin’s World, ist von der Zeitlosigkeit des Films begeistert. Die Verteidigung der Unterdrückten und der Freiheit sei Chaplins Leitmotiv gewesen.
Chaplin beherrschte die Kunst des Timings
In der Ausstellung erfährt man auch vieles über aus heutiger Sicht rudimentäre Spezialeffekte. In der berühmten Szene, in der ein Flugzeug plötzlich auf dem Kopf steht, mussten die Schauspieler tatsächlich kopfüber drehen. Jack Oakie, der in der Rolle des Benzino Napoloni den italienischen Faschisten Mussolini parodierte, schwärmte über die Dreharbeiten: «Ich habe nie mehr gelernt als während der paar Monate, in denen ich bei Chaplin war. Er beherrscht wirklich die Kunst des Timings.»
Chaplin und der grosse Diktator
Bis So, 29.8., Chaplin’s World
Corsier-sur-Vevey VD
www.chaplinsworld.com