Stoffe und ihre Muster sind global – seit jeher. Diesen Befund belegt ein Buch aus dem 16. Jahrhundert mit dem Titel «Modelbuch, aller Art Nehwens und Stickens». Es handelt von exotischen Stickmotiven wie etwa dem «Venedigschen Stern» mit seiner floralen Ausprägung. Solche Muster griffen Bündner Näherinnen damals ebenso behände auf wie andere ornamentale Darstellungen, etwa von Blumen, Löwen oder Einhörnern. Venedig war in der Renaissance der grosse europäische Handelsplatz, wo sich Europa zum Osten hin öffnete. Von dort verbreiteten sich Ideen und Güter auf dem ganzen Kontinent und gelangten in die Bündner Talschaften.
Personen auf amtlichen Papieren bestickt
Daran erinnert die neue Ausstellung «Venedigsche Sterne. Kunst und Stickerei» im Bündner Kunstmuseum. Sie stellt die traditionelle, aber global inspirierte alpine Stickerei Werken der Moderne gegenüber – etwa von Louise Bourgeois oder Ernst Ludwig Kirchner. Die Schau dokumentiert, dass die Sticktechnik wie jedes Handwerk eine künstlerische Dimension aufweist. Die beiden Kuratoren Stephan Kunz und Susann Wintsch konnten auf über 400 Objekte aus dem textilen Fundus des Engadiner Antiquars Valentin Sutter zurückgreifen; der Sammler vermachte die Kollektion dem Museum vor fast 100 Jahren. Die meisten dieser Werke hatten einen praktischen Nutzen als Decken oder Handtücher, dienten indes auch der Verschönerung im Heim. In der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts erkannten Avantgardistinnen wie Sophie Taeuber- Arp die künstlerische Kraft dieser Arbeiten und setzten sie gestalterisch um. Einzelne Werke dokumentieren die verschiedenartigen Prägungen der Stickerei besonders anschaulich, etwa die Arbeit «Thousand Individuals» der jungen Afghanin Latifa Zafar Attaii, eine Serie, die auf den ersten Blick an die US-amerikanische Pop-Art gemahnt. Diese Künstlerin bestickte 1000 Gesichter auf amtlichen Papieren wie Reisepässen oder Führerscheinen. Die Fäden sind leicht schräg gespannt, sodass die Konterfeis der Menschen für den Betrachter durchschimmern, als ob ein Gitter die Porträts und die Aussenwelt trennte.
«Hand-Werk» im wörtlichen Sinn
Einen sozialkritischen Ansatz hat auch die englische Künstlerin Eliza Bennett gewählt mit «A Woman’s Work is Never Done». Sie setzt auf eine fast selbstzerstörerische Technik: In die Beuge zwischen Handballen und Daumenwurzel stickt die Künstlerin rot-bräunliche Flicken, die an schlecht verheilte Narben erinnern. Eliza Bennett verleiht damit dem Begriff «Hand-Werk» einen wörtlichen, wenn auch schmerzhaften Sinn. Sie wolle die Stickerei als eine traditionell feminine Arbeit in neuem Licht erscheinen lassen, schreibt sie auf ihrer Website: «Ich will die Behauptung in Zweifel ziehen, dass Frauenarbeit leicht und einfach ist.»
Gegensätzlichkeit wird deutlich
Noch einmal einen anderen Ansatz vermittelt die Ostschweizerin Sophie Taeuber-Arp (1889–1943). Sie ist im Kanton Appenzell in der Tradition der St. Galler Stickerei aufgewachsen. Später arbeitete sie während Jahren mit Textilien und unterrichtete Stickerei in einer Fachklasse der Zürcher Gewerbeschule. Sophie Taeuber- Arps Werke sind Höhepunkte in der Bündner Ausstellung: So ist die wunderbare Wollstickerei auf Leinen, «Personnages », aus dem Jahr 1926 zusammen mit einem zeichnerischen Entwurf zu sehen. Sie schuf das Werk im Zusammenhang mit einer Auftragsarbeit in Strassburg, der Ausgestaltung des Tanzsaals im Hotel Hannong. Die abstrahierten Menschen sind im Interieur der Lokalität formal und farblich verwoben. Taeuber-Arp perfektionierte das Handwerk künstlerisch. Die Ausstellung beleuchtet diese Technik und ihre künstlerische Umsetzung aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln. Welten liegen zwischen den verstümmelten Händen einer Eliza Bennett und einer Farb- orgie von Sophie Taeuber-Arp. Gerade diese Gegensätzlichkeit weist dem Publikum den vertieften Zugang in dieses vielschichtige Thema.
Vier Fragen an Stephan Kunz, Künslerischer Direktor Bündner Kunstmuseum
kulturtipp: Sehen Sie einen Gegensatz zwischen künstlerischem Sticken und Gebrauchsstickerei?
Stephan Kunz: Unsere Ausstellung geht von der historischen Stickerei in Graubünden aus, die in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen wichtig war – von der Taufe bis zum Tod. Sie diente auch der Zierde und erfüllte repräsentative Aufgaben. Die künstlerische Stickerei ist freier. Interessant sind die Bezüge dazwischen. Sie scheinen uns mindestens so wichtig wie die Differenzen.
kulturtipp: Wo ziehen Sie die Linie, die den Unterschied ausmacht?
Stephan Kunz: Wir stellen nicht das eine dem anderen gegenüber. Dennoch sind die Einbettung ins tägliche Leben und die Verwendung für besondere Anlässe bei der historischen Stickerei zentral – ebenso wie die Tradition und die kollektive Überlieferung. Die künstlerische Stickerei hat sich daraus befreit und individuelle Ansätze ermöglicht.
kulturtipp: In der Vergangenheit hatten Stickarbeiten vor allem einen dekorativen Stellenwert. Wie ist es zur Hinwendung zur Kunst gekommen?
Stephan Kunz: Künstlerinnen und Künstler wie Sophie Taeuber-Arp oder Ernst Ludwig Kirchner interessierten sich für die traditionelle Stickerei. Sie machten die Technik und das Formenvokabular für ihre eigene Arbeit fruchtbar. Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein wachsendes Interesse an Praktiken erkennbar, die der Kunst neue Impulse gaben. Sticken wurde ein künstlerisches Medium wie Malen oder Zeichnen.
kulturtipp: Stickarbeiten wie Tischdecken oder Servietten erfüllten meist eine Funktion. Warum ging dieser Aspekt mit der zeitgenössischen Kunst verloren?
Stephan Kunz: Die Grenzen zwischen angewandter und freier Kunst werden heute nicht mehr so eng gezogen. So wie die klassische Stickerei die Kunst befruchtete, bereichert die künstlerische Arbeit die Stickerei.
Venedigsche Sterne. Kunst und Stickerei
Sa, 27.8.–So, 20.11., Bündner Kunstmuseum Chur