Glückliche Schweine geniessen die letzten Tage ihres irdischen Daseins. Später hängen ihre Kadaver als blutige Leiber an Haken. Und in einer properen Halle stellen geschürzte Mitarbeiter Blechdosen für den Vertrieb der Fleischprodukte her. Vor über einem Jahrhundert besass der St. Galler Schlachter Emil Schläpfer-Siegfried eine Grossmetzgerei. Arbeitsbilder dieses Unternehmens sind nun in der Ausstellung des Zürcher Landesmuseums zu sehen.
Markante Veränderung
Den Schweinen war damals wie heute nur kurze Zeit vergönnt, sich vor der Metzgerei etwas zu bewegen, bevor sie zur Schlachtbank gebracht wurden. Alles andere hat sich im Metzgereibetrieb in den letzten hundert Jahren allerdings markant verändert. So sind die heutigen Hygienevorschriften in der Lebensmittelverarbeitung viel strikter als damals. In Schläpfers Metzgerei trugen die Mitarbeiter keine Kopfbedeckung. Sie fassten das Fleisch ohne Handschuhe an, der Mundschutz war kein Thema. Heute würden die Kontrollinstanzen diese Verarbeitungspraxis beanstanden. Auch Bakterienherde wie Holzbalken sind in modernen, sterilen Metzgereibetrieben undenkbar.
Das dritte Bild zeigt eine saubere und aufgeräumte Dosenproduktionshalle – wahrscheinlich eine gestellte Aufnahme. Die gestanzten Teile sind für das Foto fein säuberlich gestapelt worden, vier Beschäftigte scheinen fleissig und konzentriert an der Arbeit zu sein. Heutige Dosenfabriken sind viel grösser, und die Maschinen werden meist nur von einer Person bedient.
Dosen als Fortschritt
Die Grossmetzgerei Schläpfer vermochte aber nicht, mit der Zeit zu gehen, sie schloss 1952 ihre Tore, das Gründungsjahr ist unbekannt. Dabei war sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein zukunftsweisendes Unternehmen: Denn bis weit ins 19. Jahrhundert versorgten sich die Leute zumindest auf dem Land fast ausschliesslich selbst mit Fleisch und liessen ihre Tiere von Kundenmetzgern schlachten. Weil die Ware kaum gekühlt werden konnte, wurden vor allem Würste statt Frischfleisch produziert. Die Haltbarkeit in Dosen bedeutete einen weiteren Fortschritt für die Haushalte.
Ab 1950 veränderte sich die Metzgereiwirtschaft stark. Der Fleischkonsum nahm zu – die Branche war plötzlich auf Importe angewiesen. Die Schweizerische Genossenschaft für Schlachtvieh- und Fleischversorgung überwachte von da an die Einfuhrmengen und die Schlachtpreise. Mit dem wachsenden Fleischkonsum drängten die Grossverteiler auf den Markt, die traditionelle Metzgereifachgeschäfte entmachteten.
Harte Arbeitswelt
Die Schweizer Arbeitswelt war damals rauer als heute: Die Arbeiterbewegung kämpfte zwar für bessere Lebensbedingungen, aber nur der Mittelstand konnte sich regelmässigen Fleischkonsum leisten. Als die abgebildeten Metzgereifotos um 1905 entstanden, war die weltpolitische Lage zunehmend angespannt – die alte Ordnung begann auseinanderzufallen. Der Flächenbrand von 1914 zeichnete sich in einem um sich greifenden Nationalismus ab.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund erscheint die St. Galler Arbeitswelt von damals geradezu idyllisch – wenn auch nicht aus Sicht der Schweine.
Vom Typenbild zum Selfie
Die Ausstellung im Schweizerischen Nationalmuseum zeigt einen chronologischen Querschnitt durch die Schweizer Produktionslandschaft der vergangenen 155 Jahre. Man sieht, wie im 19. Jahrhundert enzyklopädisch Typenbilder der Berufe in Studios fotografiert wurden und wie sich die Arbeitsfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach draussen verlagerte, um etwa posierende Arbeiter vor Baustellen abzubilden. Die Besucher können mitverfolgen, wie sich die Fotografie über die Jahre näher an ein Motiv wagte und den Reiz ungewöhnlicher Tätigkeiten erkannte. Die ersten farbigen Fotos kamen auf, und Selfies entwickelten sich früher, als man denkt.
Buch
«Arbeit. Fotografien aus der Schweiz 1860–2015»
224 Seiten
(Limmat Verlag 2015).
Ausstellung
«Arbeit. Fotografien 1860–2015»
Bis So, 3.1. Landesmuseum Zürich
Infos unter: www.nationalmuseum.ch