kulturtipp: Herr Röthlisberger, die meisten Menschen faszinieren an der Aussenseiterkunst wohl deren dichte Bilderwelten. Was begeistert Sie daran?
Rolf Röthlisberger: Für mich waren immer Tier-Motive wichtig, weil ich einfach ein Fan von Tieren bin. Ich mag aber auch die Kombination von Schrift und Bild, wie man sie etwa beim Österreicher August Walla findet. Er malte zum Beispiel ein Papier rötlich-orange an, sodass die Farbe auf der Rückseite durchschimmerte. Dort schrieb er dann einen Text in Violett. Das Sakrale, das dieses Bild so erhält, trifft man in der Aussenseiterkunst immer wieder an. Dieses Sakrale war für mich bisweilen mitentscheidend, weshalb ich eine Arbeit für meine Sammlung auswählte.
Weshalb fingen Sie überhaupt an, Aussenseiterkunst zu sammeln?
Mein Grossvater besass ein Bild vom Berner Art-brut-Künstler Adolf Wölfli. Mit diesem Gemälde wuchs ich sozusagen auf; schon als Kind faszinierten mich die verdeckten Augen der Gestalten darauf. Später schenkte mir mein Grossvater das Gemälde. Als ich dann in Aarau August Wallas bemalte Steine ausgestellt sah, zog es mir den Ärmel rein.
Vom Ärmel-Reinziehen bis zur Sammlung mit über 1200 Werken ist es aber ein weiter Weg.
Ich liebe Kunst. Am liebsten hätte ich natürlich Picasso gesammelt, dafür reichte aber der Lohn als Gymnasiallehrer nicht. Also wurde die Aussenseiterkunst mein Hobby. Mein Ziel war es immer, nicht nur ein Bild einer Künstlerin oder eines Künstlers zu besitzen. Ich versuchte, ein typisches Werk für diese Person zu kaufen, dann möglichst eines aus der Früh- und noch eines aus der Spätphase. Philippe Saxers allerletztes Bild zum Beispiel erhielt ich von seinem Vater.
Spürten Sie eine gewisse Verantwortung gegenüber diesen Künstlerinnen und Künstlern, die ja oftmals Patienten von psychiatrischen Kliniken waren?
Das war immer ein Thema. Oft sagten mir die Künstler: Rolf, gib mir eine 20er-Note. Ich habe mir aber immer zuerst ein Urteil über ein Bild gemacht, auf Maltechnik und Material geachtet – und dann zum Beispiel 200 Franken bezahlt. Ich wollte hinter dem Kauf stehen können. Ich glaube, ich konnte diesen Menschen helfen, indem ich ihnen etwas Taschengeld verschaffte. Vor allem aber, weil meine Käufe zu ihrem Selbstwertgefühl beitrugen.
Sie haben viele dieser Künstler persönlich gekannt. Wie wichtig war Ihnen das?
Ich hatte immer das Gefühl, man müsse auch die Menschen hinter dieser Kunst kennen. Wenn ich jeweils in der österreichischen Klinik Gugging war, wollte August Walla mit mir jassen – schnapsen, wie sie in Österreich sagen. Er musste immer gewinnen und hat auch geschummelt bis zum Gehtnichtmehr. Jemanden so kennenlernen zu dürfen, ist unersetzlich. Für mein Urteil über ein Werk war das nicht nötig, aber es brachte mich den Bildern näher. Schaue ich mir ein bestimmtes Gemälde von Walla heute an, erinnere ich mich, wie er damals beim Jassen schummelte. Das ist eine schöne Erinnerung.
Wenn wir schon bei Walla sind: In seinem Werk findet man immer wieder Hitler-Figuren und Hakenkreuze. Bei Josef Hofer wiederum geht es oft um Onanie. Reizte Sie der ungezwungene Umgang mit Tabus an der Aussenseiterkunst?
Bei Hofer interessierte mich die Onanie nie. Dafür diese wunderschönen Rahmen, die er malte. In diesen steckt die Farbenkraft seiner Bilder. Bezüglich Walla hatte ich einmal ein schönes Erlebnis. Als ich noch in Davos lebte, hing eines seiner Gemälde so in meiner Wohnung, dass man es von der Strasse aus sehen konnte – mit Hitler und SS-Buchstaben. Eines Tages warfen Jugendliche etwas ans Fenster. Als ich öffnete, wollten sie wissen, ob ich denn ein Nazi-Sympathisant sei. Ich lud sie dann zu mir ein, zeigte ihnen das Bild, erklärte ihnen meine Sammlung, und wir trennten uns freundschaftlich.
Sie haben Ihre Sammlung 2018 dem Kunstmuseum Thurgau geschenkt. Wie fühlte es sich an, diese aus der Hand zu geben?
In dieser Beziehung bin ich ein Rationalist. Ich habe das schon früh mit meiner verstorbenen Frau besprochen, die mich immer beim Sammeln unterstützte. Wir wollten verhindern, dass diese Werke irgendwann einfach verkauft werden – die Sammlung sollte zusammenbleiben. Als ich wusste, dass die Bilder in ein Haus kommen, das zum Beispiel die Mittel für allfällige Restaurierungen besitzt, war der Entscheid, sie wegzugeben eigentlich locker.
Sie haben selber immer wieder auch Ausstellungen organisiert, etwa während Ihrer Zeit als Direktor des Psychiatrie-Museums der Klinik Waldau in Bern. Was wollten Sie dem Publikum vermitteln?
In Bern habe ich bewusst Bilder aus der Sammlung des Psychiaters Walter Morgenthaler ausgestellt. Für mich ist er der grosse Entdecker der Aussenseiterkunst: Er hat in den Bildern von Adolf Wölfli Kunst gesehen und mit Publikationen dafür gesorgt, dass dessen Leben und Werke bekannt wurden. Ich hatte immer die Hoffnung, dass es den Besucherinnen und Besuchern meiner Ausstellungen so ging wie mir einst mit Adolf Wölfli: dass seine Bilder auf sie einwirken, dass es klick macht und sie sehen, wie spannend und schön diese Kunst ist.
Jenseits aller Regeln
Das Kunstmuseum Thurgau gewährt mit der Ausstellung «Jenseits aller Regeln» erstmals einen ausführlichen Einblick in die Sammlung von Aussenseiterkunst, die das Haus 2018 von Rolf Röthlisberger erhielt. Dazu erscheint auch ein gleichnamiges Buch mit über 290 Abbildungen.
Das Zentrum Paul Klee in Bern zeigt derweil zum ersten Mal Notizhefte des bekannten Berner Art-brut-Künstlers Adolf Wölfli (1864–1930).
Ausstellungen
Jenseits aller Regeln
Bis So, 19.12.
Kunstmuseum Thurgau Warth TG
Riesen=Schöpfung.
Die Welt von Adolf Wölfli
Bis So, 15.8.
Zentrum Paul Klee Bern
Buch
Jenseits aller Regeln. Aussenseiterkunst, ein Phänomen
Hg. Markus Landert
(Scheidegger & Spiess 2021)