Etwas seltsam. Vielleicht. Eigentlich eher verschroben. Das passt zum englischen Dirigenten Roger Norrington. Er kann es sich leisten. Ebenso wie der 85-jährige Nikolaus Harnoncourt gehört Norrington zu den Legenden, zu den Pionieren der historischen Aufführungspraxis. Er schaffte es, mit dem historisch belegten Musizieren – mit dem Spiel auf Darmsaiten, dem Quellenstudium und den Originalinstrumenten – in die Klassikwelt einzubrechen, sie zu erobern. Norrington wurde weltberühmt für das vibratolose oder vibratoreduzierte Spiel: Der Streicherklang verbleibt in seiner farbenfrohen Unschuld, ohne dass ihn das kunstvolle Zittern der Finger romantisch auflädt.
All das durften die Zürcher vier Jahre lang bestaunen – oder eher: ein kleiner Teil von ihnen. Denn Norrington konnte als Principal Conductor des Zürcher Kammerorchesters (ZKO) in der Stadt nie richtig Fuss fassen. Das ZKO blieb in der öffentlichen Wahrnehmung abgeschlagen das dritte Zürcher Orchester.
Zeitgemässes Gespür
Eigentlich merkwürdig, denn das ZKO hat am ehesten das zeitgemässe Gespür unter den Orchestern: Bei einem Konzert spricht – Schwellen zertrümmernd – zuerst der 1. Geiger, alsbald der Dirigent locker zum Publikum. Beim ZKO gibt es die originellsten Einführungen, die meisten Kinderkonzerte (siehe kulturtipp 7/15), die aktuellsten Solisten, spannende, zwischen Barock und Moderne wirbelnde CDs und nach den Konzerten einen vom Sponsor offerierten Apéro. Es nützt nicht immer: Wenn der Principal Conductor Norrington ein reines Mozart-Programm dirigiert, etwa an Mozarts Geburtstag, sollte der Tonhalle-Saal nicht zu dreiviertel, sondern brechend voll sein.
Eigenartig ist, dass es die ZKO-Führung nicht schaffte, das Kaliber Norrington besser zu verkaufen. Ende September, beim ersten Konzert dieser Saison, wurden die Anwesenden von Norrington überrumpelt: Nach der Pause wandte sich der 80-jährige, zum Sarkasmus neigende Dirigent ans Publikum und sagte: «Das ist meine letzte Saison als Principal Conductor des Zürcher Kammerorchesters.» Damit hatte keiner gerechnet. Zwar wird Norrington dem Orchester verbunden bleiben, aber er wird seine sowieso schon minimale Anzahl von fünf Konzerten reduzieren, wie Geschäftsführer Michael Bühler dem kulturtipp sagt.
Viele Namen im Spiel
Doch wie weiter im nächsten Jahr? Ist der Bruch gar gut? Gibt es diesmal einen richtigen Neuanfang? Wer will, dass das ZKO mit einem neuen, jüngeren Chef aus dem Schatten der zwei anderen Zürcher Orchester tritt, der wird Norringtons Abschied sogar begrüssen. Doch Kammerorchester sind heikel. Rundum zeigt man, dass ein fixer Chefdirigent mit grossem Namen zwar Identität und Publizität schaffen kann, aber eigentlich unnötig ist. Zu gerne zeigen sich moderne Solisten – etwa Geiger und Pianisten, aber auch Flötisten wie Bruno Meier oder Maurice Steger – bereit, jene Orchester, bei denen sie als Solisten engagiert werden, selbst zu dirigieren.
Wenn beim ZKO tatsächlich ein Solist der nächste künstlerische Leiter sein würde, müsste es ein grosser Name sein. Nur so sind mehr (Sponsoren-) Gelder, mehr Publikum und internationale Aufmerksamkeit zu generieren. Vielleicht wird der glamouröse Geigenhansdampf in allen Gassen Daniel Hope, ZKO-Artist-in-Residence, schon bald diese Rolle übernehmen. Wie wäre es mit Julian Rachlin (beim ZKO am 19. Mai) oder dem furiosen Thomas Zehetmair (ZKO-Konzert am 9. Juni)? Oder besinnt man sich auf einen Zürcher? Blockflötenstar Maurice Steger dirigiert jedenfalls gerne Kleinformationen.
Akzente setzen
Die Chance, mit einem jüngeren Dirigenten das Profil zu stärken und international ein Player zu werden, besteht durchaus. Gerade italienische Dirigenten, die in der Barockmusik Akzente setzten und dann in die Welt
der grossen Sinfonieorchester aufbrachen, gäbe es einige: Fabio Biondi (ZKO-Konzert am 2. Juni), Andrea Marcon, Rinaldo Alessandrini, Federico Maria Sardelli und Riccardo Minasi wären fünf angesagte Namen.
Wie fruchtbringend und werbewirksam ein solcher Charakterkopf sein kann, beweist das Kammerorchester Basel mit Giovanni Antonini. Zur Hälfte verhilft er dem Orchester zu Ruhm, zur andern Hälfte verhilft ihm das Orchester dazu.
CD
ZKO mit Roger Norrington
Stravinsky (Sony 2013).
Vienna 1789
(Berlin Classics 2013).
ZKO-Meisterzyklus
Brandauer liest Bonhoeffer
Violine: Daniel Hope
Sprecher: Klaus Maria Brandauer
Fr, 24.4., 18.30 & 21.00 Schauspielhaus Zürich
ZKO-Konzerte
Julian Rachlin: Di, 19.5.
Fabio Biondi: Di, 2.6.
Thomas Zehetmair: Di, 9.6.
Roger Norrington: Di, 23.6.
Jeweils 19.30 Tonhalle Zürich
www.zko.ch