Die Beerdigung von «Radio X»- Gründer Patrik Tschudin war zugleich eine Geburt: Christian Heuss, Melina Maret-Roshard, Paolo Domeniconi, Dominik Stocker und Dominik Born – alle Audio-Liebhaber und wie Tschudin Mitglieder des Vereins Radiolab – diskutierten über Radio, Streaming, die Zukunft. Und landeten bei der Idee einer abofinanzierten Audioplattform, auf der Nutzer selbst das Programm bestimmen – zugeschnitten auf ihre Vorlieben.
Tatsächlich geboren wurde Sonum.fm im April 2022. Auch dank unverhoffter «Hilfe» von SRF: Dort fielen die «Musikspecials » einer Programmumstel- lung zum Opfer. Radiolab holte die Macher der abgesetzten Formate ins Boot und startete ein Crowdfunding, um die «Specials» zu retten und exklusiv bei Sonum.fm anzubieten.
700 Abonnenten unterstützten den Start innert Wochen mit über 70 000 Franken. Lukie Wynigers Reggae-Sendung heisst neu «Peng Peng Radio », Matthias Erb, Urs Musfeld und Sabine Renz präsentieren in «Hounds!» Indie-Fundstücke, und Dominic Dillier geht mit «Rock ist tot» auf Sendung.
Für Dillier, der seit 1996 bei SRF moderiert, ist die Situation ungewohnt: «Früher konnte ich bei Problemen den technischen Support anrufen, nun bin ich wirklich alleine.» Dafür geniesse er «totale Freiheit». Purer Idealismus sei das, als Sendungsmacher verdiene er (noch) nichts: «Ich sehe es als Start-up, in das ich viel investiere, und vielleicht wirft es irgendwann Geld ab.»
Ersatz für «52 beste Bücher»
In Zukunft will Sonum.fm noch enger mit Produktionen wie Eric Facons «Kulturstammtisch» oder «LiteraturPur» von Esther Schneider (früher: «52 beste Bücher») zusammenarbeiten. «Wir bauen das Angebot an eigenen exklusiven Beiträgen laufend aus und setzen auf Kooperationen mit Podcast-Labels wie der ‹Podcastschmiede› oder ‹Audiobande› », erklärt Programmleiter Paolo Domeniconi.
Momentan sieht er die Stärke noch anderswo: «Im Internet ist alles verfügbar. Wir bieten den Service einer handkuratierten Vorauswahl, den man wie ein Radiogerät nutzen kann: einschalten, zuhören – und wenn etwas nicht gefällt, per Skip weiterspringen.»
Im Test überzeugt die Plattform, deren Vorgänger diy.fm der Innovationsmanager Dominik Born ursprünglich für die SRG entwickelte, durch intuitive Bedienung und übersichtliche Darstellung. Der Einstieg ist kinderleicht: Auf den Slogan «Radio à la carte» folgt die Wahl von Präferenzen in vier Sparten: «Themen» (Digital, Kultur etc.), «Nachrichten» (Deutschland, Schweiz etc.), «Radio» (Jazz, Klassik etc.) und «Musik» (70er, Soul, Pop etc.). Bereits mit dem siebten Klick startet der erste Beitrag.
Das vom Algorithmus Gespielte überzeugt. «Je häufiger die Nutzung, desto besser wird das Programm», erklärt Domeniconi. Einzelne Inhalte lassen sich entfernen, favorisieren oder für später speichern. So viel zur kostenlosen Variante. Sonum.fm aber finanziert sich über Mitgliedschaften: Für 65 Franken pro Jahr können in der Audiothek beliebig viele Musikstile, Themen und Radios ausgewählt werden.
Und auch die «Musikspecials» sind Mitgliedern vorbehalten. Domeniconi vergleicht die Plattform mit dem Online-Magazin «Republik»: «Ohne Community und Ein- nahmen von Mitgliedern wären wir nicht überlebensfähig.» Und tatsächlich, wer Sonum.fm kennt, möchte nicht mehr darauf verzichten. Die lästige Suche im Streaming-Chaos fällt weg, Produktionen und Nischenradios begeistern. Auf den Wirtschaftskrimi- Podcast folgen sonnige Beats. Perfekt, um die Nebelsuppe zu vertreiben.
Zukunft bei SRF 3
Nach dem Ende der Specials wurde die Sendung «Sounds!» musikalisch breiter aufgestellt und läuft nun wochentags von 20 bis 23 Uhr. Ergänzt wird dies durch die neuen Hintergrundpodcasts «Sounds! Story» und «Sounds! Talk».
Darin gehen die Moderatoren mit Experten und Künstlerinnen Geschichten aus der Musikwelt nach. Rocklegende Ozzy Osbourne kann ebenso Thema sein wie die Anzahl Frauen auf Festivalbühnen oder alternde Popstars, die ihre Songrechte verkaufen. Auf dem Youtube-Kanal setzt SRF 3 parallel dazu Musikformate in Videoform um. So holte SRF 3 kürzlich in der Aktion «Neu aufgelegt: Mani Matter 2022» Musiker aus unterschiedlichsten Genres vor die Kamera, um Lieder des Berner Troubadours zu dessen Todestag neu zu interpretieren.
Sowohl die Sendung «Bounce», die das Rap-Universum mit Fokus Schweiz behandelt, als auch «Punkt CH» und «Best Talent» bleiben zentrale Teile des Musikangebots. Bereits im Juni ist der Sender «SRF Virus» neu gestartet, der laut Manuel Thalmann, Leiter «Jugend & Musik», einen grossen Fokus auf die Förderung junger Schweizer Musiktalente legt.»
SRF 3-Musikchef Michael Schuler zum Musikkonsum der Zukunft
kulturtipp: Im Frühling hat SRF die «Specials» zusammengelegt. War es rückblickend die richtige Entscheidung?
Michael Schuler: Die Veränderung des Abendprogramms ermöglicht uns, diverse neue Angebote insbesondere auch im nicht linearen Bereich zu realisieren. Die facettenreichen Angebote überraschen und begeistern mich immer wieder. Und das neue SRF-3-Abendprogramm beglei- tet mich gut in die Nacht. Von daher: Ja, es war die richtige Entscheidung.
kulturtipp: Trotzdem haben Fans teilweise harsch reagiert, als «ihre» Sendungen verschwanden.
Michael Schuler: Die neue «Sounds!»-Sendung entspricht viel mehr dem aktuellen Zeitgeist: Meine Generation war früher eingeschossen auf spezifische Musikstile, alles andere verach- teten wir. Heute staune ich oft, wie jüngere Generationen am Montag Zen-Funk-Konzerte mit Nik Bärtsch’s Ronin besuchen und am Wochenende an Hardcore-Raves tanzen.
kulturtipp: Einige der ehemaligen «Specials» sind bei Sonum.fm wieder zu hören. Glauben Sie, die Plattform kann neben Radios, Podcasts und Musikstreaming überleben?
Michael Schuler: Ich hoffe es. Es ist eine clevere Distributionsseite mit einigen interessanten Features.
… etwa den Nachrichten, die Sonus.fm von SRF bezieht. Wäre eine Zusammenarbeit denkbar? Tatsächlich nutzt Sonum.fm bereits Elemente von SRF. Wir können uns vieles vorstellen. Ob eine vertiefte Kooperation entsteht, hängt auch von den Plänen der Macherinnen und Macher ab.
kulturtipp: Was ist Ihre Antwort auf das «massgeschneiderte» Radio?
Michael Schuler: Ich bin gespannt auf die Akzeptanz des Publikums auf dieses neue Angebot.
kulturtipp: Eine treue Hörerschaft ist zentral. Hört man über Jahre dieselbe Sendung, fühlt es sich an, als wären die Macher enge Freunde.
Michael Schuler: Genau! Das ist die Magie des Radios. Und uns fällt immer wieder auf, dass vom Publikum gewünschte Songs eher akzeptiert werden, als wenn wir diese einfach so spielen. Die Hörer merken: Aha, jemand anderes findet diesen Song gut, auch wenn er mir nicht so gefällt.