Versammelt sind im Projekt «Folkfestival Lenzburg online» gut 2400 Musikstücke mit einer Dauer von zusammen rund 130 Stunden: das Tonmaterial aus den neun Jahren des Folkfestivals Lenzburg von 1972 bis 1980, dazu unzählige Fotos, Filme, Plakate und Textdokumente wie Programmhefte, Zeitungsberichte, Protokolle und Korrespondenzen.
Das Festival, das heute als das erste Open Air in der Schweiz gilt, dauert bei den ersten beiden Ausgaben nur einen Tag. 1974 wird es zum zweitägigen Anlass. Und hat schon früh ein Platzproblem. Aufgrund der Gegebenheiten des Schlossgeländes ist nur eine beschränkte Zuschauerzahl möglich. Die Publikumskapazität beträgt 900 bei schlechtem Wetter und 2500 bei schönem Wetter. Weil 10'000 Menschen ein Billett wollen, sieht man sich gezwungen, die Eintritte im Vorverkauf zu verlosen.
Irische Kultbands und einheimische Folkgruppen
Das Folkfestival Lenzburg bleibt ein nicht-kommerzieller Anlass. Grundsätzlich leisten hier alle Gratisarbeit. Wer für einen Konzertauftritt ans Festival kommt, ob von nah oder von fern, erhält lediglich Reisespesen und Verpflegung.
Und sie kommen alle: Gruppen von Süditalien bis Skandinavien, von Rumänien bis zur Bretagne, von den USA bis zu den britischen Inseln. Kultbands wie die irischen Planxty oder die flämischen Rum, Gruppen mit Migranten, einheimische Folkbands und Ländlerkapellen wie die Schwyzer Kapelle Mythenholz, die Vitznauer Rigi Hundsbuchmusig, die Appenzeller Streichmusik Hürlemann, Liedermacher wie Walter Lietha, Werner Widmer oder Hannes Wader.
Der Berner Urs Hostettler, der als Mundart-Liedermacher beim ersten Mal dabei ist und 1976 bis 1978 im Organisationskomitee für das Musikprogramm verantwortlich zeichnet, ist einer der ersten, die «andere» Schweizer Volkslieder interpretieren. Er wird, Jahrzehnte später, in der Nachlassgeschichte des Festivals noch eine massgebliche Rolle spielen. Nach 1980 ist Schluss. Wegen Renovationsarbeiten wäre jahrelang eh kein Festival auf dem Schloss mehr möglich.
1982 löst sich der Trägerverein auf. Er schenkt sämtliche Tonaufnahmen zwecks Archivierung dem Schweizerischen Volksliedarchiv in Basel. Urs Hostettler hat da die Tonbänder zusammen mit seiner Lebens- und Musikpartnerin Katharina Siegenthaler schon eigenhändig katalogisiert, auf rund 2000 maschinengeschriebenen Karteikarten. Sie werden bei 15 Grad Celsius eingelagert. Und bleiben im Archiv liegen. 2015 lanciert das Volksliedarchiv ein Pilotprojekt zur Digitalisierung der Tonbänder.
2018 geschieht dies in der Nationalphonothek in Lugano. Urs Hostettler nimmt die Arbeit auf sich, das Material in einzelne Tracks zu portionieren. Ein digitaler Katalog wird erstellt. «Zum Teil war es eigentliche Detektivarbeit », sagt der heute 73-Jährige. Und eine Mammutaufgabe. Mehr als 1000 Stunden Gratisarbeit hat er in das Projekt investiert. «Mir war von Anfang an klar, dass das Erbe des Folkfestivals Lenzburg online verfügbar sein muss.» Mithilfe seines IT-versierten Sohnes Michael programmiert er eine benutzertaugliche Website mit Suchmas- ken für Titel und Interpreten. Schliesslich ist es nach langer Zeit so weit: Das gesamte Folkfestival- Material ist als Online-Archiv zugänglich. Dank der Kooperation von Privatinitiative, Volksliedarchiv, Phonotek und der Institution Memoriav, die sich um die Erhaltung des schweizerischen audiovisuellen Kulturerbes kümmert. Und die Schweizer Urheberrechtsgenossenschaft Suisa hat für dieses Projekt zum ersten Mal eine sogenannte Kollektivlizenz erteilt.
Viel Material für die kommende Generation
Und nun? «Man muss es jetzt den Nachgeborenen übergeben, damit sie etwas damit machen können», sagt Hostettler. Es sei Material für kommende Generationen, für ein interessiertes Publikum, für wissenschaftliche Arbeiten und für Musiker, die Stücke für ihre eigene Interpretation nutzen können. Ein kleiner Wermutstropfen: Es ist nicht alles erhalten geblieben.
Die Tontechniker Beat und Egmont Hohmann haben die meisten Konzerte am Folkfestival beschallt. Gleichzeitig hat Beat Hohmann die Musik mit einem Revox-Gerät aufgenommen. Aus Kostengründen hat er Tonbänder vom Vorjahr überspielt, das heisst gelöscht – und alles, was nicht kopiert war, blieb verloren. Das gilt auch für das Schweizer Radio, das eigene Aufnahmen von Nebenbühnen machte und aus Spargründen die letztjährigen Bänder wiederverwendete. Aber der gerettete audiovisuelle Schatz ist im Netz nun als ein schönes Stück Schweizer Kulturgeschichte für alle Zeiten gesichert.
Folkfestival Lenzburg online
www.volksliedarchiv.ch