Alles kann von Nutzen sein, wenn man guten Willens ist», dachte Edna, nachdem sie ohne guten Willen abgereist war. Mit lebhaften Ausflüglern gefüllt, kroch die Zahnradbahn den Berg hoch. Ruckartig hielt sie am Umsteigebahnhof, der aussah wie aus einem Spielzeugmuseum. Unter der azurblauen Gelassenheit des Himmels warfen sich Insekten in Blumenwiesen. Die Spitzen der Alpen glänzten wie weisse Tempelzinnen in der Luft. Edna überlegte, ob sie hier oben begraben sein möchte, und schämte sich sogleich für diesen Gedanken, den sich nur alte Leute machten. Ihr Therapeut, ein gestriger Freudianer, hatte sich nach monatelanger Behandlung im Liegen über Ednas Traumlosigkeit beschwert und ihr geraten, ein paar Nächte in den Schweizer Alpen zu verbringen: «Die Ruhe dort wird Sie umhauen. Sogar Sie werden schlafen.»
Am Bahnhof herrschte ein kurzer Trubel. Englischsprachige Lautsprecherdurchsagen dirigierten Touristen in Anschlusszügen auf den Gipfel. Sie ratterten los. Dann wurde es still.
Ein Kiosk mit Süssigkeiten, Revolverheftchen und Briefmarken schien Edna wie eine Heimat am eisigen Weltrand. In gebrochenem Deutsch kaufte sie französische Zigaretten. Die junge Kioskfrau hatte etwas Nofretetenhaftes, trug glitzerige Nagelstickers und ein bedrucktes T-Shirt, auf dem «Lady of the Manor» stand. Sie nannte den Preis, auch in gebrochenem Deutsch. Edna fand sie schön und las den Schriftzug lang. Aus Versehen zwinkerte sie ihr zu. Ein halbverrutschtes Lächeln huschte übers Gesicht der Kioskfrau.
Das Hotel lag in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs an der schwarzen Flanke eines Viertausenders. Es schien unter Schutz zu stehen, wie alles auf der Passhöhe. Mit leichtem Schwindelgefühl betrat Edna durch eine Drehtür das Hotel. Über sonnengedunkeltes Parkett waren dicke Teppiche ausgerollt, ein Cheminéefeuer flackerte in der Lobby. In Tweed gehüllt, las ein aus der Zeit gefallener Gast die «Neue Zürcher Zeitung». Er blickte kurz auf, als sie den Raum betrat, bevor er gänzlich im alten Polster eines Clubsessels versank.
Die Concierge, eine einheimische Regentin, trug die Züge einer älteren Gouvernante. Eines ihrer Augen war rot. Wohl eine Ader, die durch den hohen Druck der Stille geplatzt war, dachte Edna. Sie brauche ein paar Tage Ruhe, wisse nicht, wie lange sie bleibe, flüsterte sie. Die Concierge nickte ungerührt. Ihr Blick schien zu sagen: «Lerne leiden, ohne zu klagen.» Sie gab Edna den Zimmerschlüssel und liess sie wissen, wann das Abendessen serviert wurde. Es klang wie ein Befehl.
Edna suchte vergeblich nach einem Lift. Die alte Treppe knarrte. Sie war oft unterwegs und reiste mit leichtem Gepäck, trotzdem kam sie ins Keuchen. Im Zimmer befreite sie sich von ihren durchschwitzten Kleidern und warf sich aufs Bett. Sie suchte nach einer Fernbedienung und merkte, dass der Fernseher fehlte. Bukolische Schäfer und ihre Gespielinnen lächelten ihr verführerisch und hundertfach von der stoffbespannten Wand zu. Das Ächzen der Züge war verstummt. Vor dem Fenster hüllten sich die Alpen in Abendlicht, in eisiger Einsamkeit schweigend über ihre Anfänge und Reibungen. Edna wusste, dass sie langsam zerfiel. Sie stand in der Mitte ihres Lebens. Seit Monaten zitterte es in ihrem Innern. Und das Zittern hielt an.
Sie rief ihren Mann an. «Warst du in der Sauna?», fragte Ben. «Nur Billard und Bergluft», stöhnte sie. «Du passt nicht ins Konzept», lachte er. Sie begann, sich zu beruhigen, wie immer, wenn sie seine Stimme durchs Telefon hörte. Seit 20 Jahren lebten sie zusammen. Sie hatte genug davon, doch kaum war Edna getrennt von ihm, vermisste sie ihn, dass es wehtat.
Zäh verstrich die Zeit bis zum Abendessen. Edna ging den Fluren entlang in den Speisesaal. Dort hingen verblasste Schwarz-WeissFotos, die von Erstbesteigungen erzählten. Sie dachte an jene, die es nicht geschafft hatten, die nicht lebendig zurückgekehrt waren. Ihr fehlte es an Mut und Selbstüberwindung, die für ein existenzielles Wagnis nötig waren. Aber auch an Ehrgeiz und Dummheit.
Sie ass vier Gänge, lauschte dem Kauen der Gäste und dem Klirren des Bestecks. Nach dem Dinner setzte sie sich zwischen Segelschiffmodellen auf ein viktorianisches Möbel im Salon und las in einem Buch über den Genozid in Ruanda. Doch sie las nur Wörter, sie war zu unruhig. Eine holländische Familie spielte Scrabble, der Mann in Tweed trank Sherry und lächelte flehend in ihre Richtung.
Edna flüchtete in die getäferte Bar und betrank sich. Ein stiller Finne schenkte ihr nach. Dann torkelte sie in ihr Zimmer. Dort schrieb sie ihrem Geliebten einen Brief: «Ich glaube, dass es für uns kein Weiter mehr gibt. Es fällt mir schwer, das zu sagen. Ich wünsche Dir nur das Beste.» Sie zerknüllte den Brief und öffnete das Fenster.
Draussen atmete die Welt klare, kalte Luft. Edna rauchte die Viertausender an, die unerschrocken in die Finsternis ragten. Wer weiss, vielleicht war alles Bisherige nur ein Traum, die Tage im Büro, die Schlangen vor den Kassen, die Jahreszeiten, die plagende Erinnerung. Die verschwitzten Nächte, in denen die Tabletten wohnten, das Weitersegeln durch die Jahre, der Überfluss und Überdruss, das Abschiednehmen, die Veränderung des eigenen Gewebes.
Sie schrieb dem Geliebten eine kurze Nachricht: «Bin gut angekommen. Melde mich bald. Schlaf gut.» Dann legte sie sich hin und schlief vier Stunden tief.
Der helle Himmel oder der Geruch von Rührei weckte sie. Um ihren Therapeuten nicht zu enttäuschen, dachte sich Edna einen Traum für die nächste Sitzung aus. Darin tauchte ein alpines Arkadien auf. Mit einer bukolischen Schäferin, die gebrochen Deutsch redete, ritt Edna auf einem in Tweed gehüllten Geissbock über Wiesen voller Rittersporn. Sie stiegen in die Höhe, überquerten Scharten und felsige Gratköpfe, bezwangen ein Meer aus Eis und erreichten gemeinsam den überfirnten Gipfel. Die Komposition des Traums war ohne Anfang und Ende und wurde ganz dem Pinselstrich ihrer Fantasie unterworfen. In der kurzen Nüchternheit des Morgens schien er Edna echter als alles sonst.
Sie verliess noch am gleichen Tag das Hotel. Auf der Sonnenterrasse blickte sie ein letztes Mal zur schwarzen Flanke hoch.
Ariane von Graffenried
Ariane von Graffenried ist Autorin und promovierte Theaterwissenschafterin. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe Bern ist überall, Kuratorin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und tritt als Spoken-Word-Performerin mit dem Musiker und Klangkünstler Robert Aeberhard im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.